Das Ankh
Es war fast Mitternacht, als ich bemerkte, dass ich mein Ankh verloren hatte. Meine Frau und ich waren ein paar Stunden Richtung Norden gefahren, quer durch die Insel auf einer der einsamen Straße, die ein fast unberührtes, bergiges Terrain durchzog, bis wir Abends in der Colonia de Saint Pere am Nordzipfel Mallorcas ankamen, baden gingen, etwas aßen und dann Richtung Betlem weiterfuhren, um uns einen Schlafplatz zu suchen. Wir fanden auch ganz einfach einen solchen direkt am Meer, fünf Meter von dem Rauschen der Wellen entfernt, die sich an dem teilweise scharfen Gestein brachen. In der unmittelbaren Nähe von unserem roten VW-T3 Wohnmobil, der all unseren Freunden nur unter dem Namen Rasputin bekannt ist, stand ein Obelisk. Dieser Obelisk ragte wohl etwa 20 Meter in die Höhe und machte einen gar seltsamen Eindruck. Ein ägyptischer Obelisk auf Mallorca! Wir staunten nicht schlecht. Nachdem wir dann die nächtliche Stimmung des Mittelmeers in uns aufgenommen und entfernt auf der anderen Seite der Meeresbucht die Lichter Alcudias beobachtet hatten, gingen wir schlafen. Die salzige Meeresbrise hatte uns von der Hitze des Tages abgekühlt und wir waren glücklich, auf der Insel angekommen zu sein. Ich zog mich aus und bemerkte plötzlich, weil ein gewohntes Gefühl am Hals fehlte, dass mein silberfarbenes Ankh, dass von einem nachtblauen Lapislazuli veredelt war und stets an einem Lederband um meinen Hals hing, verschwunden war. Ich geriet unmittelbar in Panik.
Ich hatte das Ankh wohl am Strand der Colonia verloren, als ich versuchte, den Seeigeln auszuweichen, dachte ich mir. Das Ankh, das Symbol des Lebens im Allgemeinen, für mich aber auch Symbol der Evolution, der Weiterentwicklung und Erleuchtung im Besonderen. Ein Ankh zu verlieren hat immer etwas Magisches an sich, eine Art magische Bedeutung, ein Omen. Man verliert nicht einfach ein Ankh. Man kann vielleicht sein Feuerzeug verlegen, aber niemals sein Ankh. So ein Symbol ist immer ein Bindeglied zwischen einem selbst, dem eigenen Willen und dem Universum, vor allem, wenn man es dazu gemacht hatte. Und ich hatte es zu dem gemacht. Verliert man es, ist man ziemlich gut beraten, wenn man dieses Ereignis ernst nimmt und nicht einfach abtut. Denn so was hat per definition Bedeutung: Das Universum, oder ein mir unbewusster Teil meiner Psyche (wer kann schon auf dieser Ebene den Unterschied sehen?) wollte mir was sagen.
Also zog ich mich wieder an, um herauszufinden, was diese Bedeutung sei. Ich holte mir eine Räucherkohle aus einer Schublade Rasputins – eine, wo man nur kurz das Feuerzeug dranhalten muss, damit es zündet - sowie weißen Weihrauch. Dann ging ich ans Meer uns setzte mich auf einen großen Felsen am Wasser. Ich entzündete die Räucherung. Ich begab mich ins Asana. Und dann, als der schwere und süße Duft des Weihrauchs mich vollkommen einhüllte, rief ich Nuit an.
Nuit, die unendliche Sternengöttin, welche immer nicht-eines ist, obwohl sie alles ist und der unendliche Raum. Nuit, die Zuflucht. Nuit, im alten Ägypten Göttin des Nils und damit allen Lebens. Nuit, die Teil meiner Psyche ist, die Geist ist, ohne Anfang, ohne Ende, ohne Grenzen, ohne Ego. Nuit, die nonduales Bewusstsein ist und die Königin des Himmels: Ich hatte immer schon besondere Nuit-Erfahrungen gemacht, wenn ich sie in der Nähe des Wassers angerufen hatte, denn sie stammt ursprünglich aus den Wassern des Nils und sie ist das Wasser.
Und so rief ich sie auch hier an, unter dem Nachthimmel mit Weihrauch, wie es im Liber Al vel Legis geschrieben steht. Ich versetzte mich in Trance, indem ich wie die tibetanischen Mönche aus dem tiefsten Chakra heraus ihren Namen vibrierte und strebte, mich selbst in der Weite und Nacht ihres Namens zu verlieren. Nuu-iii-t, Nuu-iii-t, Nuu-iii-t … und mein Egoverschwand: Ich wurde zum Rauschen der Wellen, zu dem Wind, der meinen Körper umwehte, ich wurde der harte Felsen, auf dem ich saß: Nuit senkte sich auf mich herab und nichts von mir verblieb. Je tiefer die Trance wurde umso deutlicher kam mir Nuit entgegen, umarmte mich, küsste mich, neckte mich. Wellen, die sich auf den Felsen und Steinen brachen, nahmen meine Aufmerksamkeit gefangen, denn es war Nuit, die mir entgegenströmte. Unmöglich, sie ganz zu fassen, unmöglich, alles zu begreifen, unmöglich jede Brechung der eintausend Wellen zu umarmen und zu begreifen.
Denn gibt man sich der Verlockung Nuits hin und hört noch genauer hin, erkennt man, dass jede Welle, jedes Rauschen wie ein Fraktal eintausend andere Wellen mit und in sich führt, ewig und immer tiefer, und plötzlich verschwunden ist, um eintausend neue Wellen, die sich am Fels brechen zu ermöglichen. Ewig, ewig brechen sich diese Wellen, in absoluter Harmonie und Vollständigkeit. Jedes Wellen-Fraktal ist perfekt, und dies nur durch die Existenz all der anderen Wellen-Fraktale.
Und dann sprach Nuit zu mir, ihr Menschen seid wie diese Wellen. Es gibt kleine oder größere Wellen, größere und kleinere Taten, kleine oder größere Gedanken, größere oder kleinere Gefühle, doch man kann keine Welle einfach wegnehmen, ohne das Meer und die Idee des Meeres an sich zu zerstören. Alles gehört zusammen. Nur so ist es vollständig, nur so ist es nicht. Nur so bin ich nicht. Jede Welle hat seine Bedeutung für das Ganze, so klein und unbedeutend die Welle auch sein mag. Und alle Wellen, alle Menschen zusammen ergeben das Meer. Ich Nuit bin das Meer. Und ich bin nicht.
Und sie sagte, wie kann ich nur denken, dass das Ankh verloren sei. Nichts ist je verloren. Nichts in mir geht je verloren. Es mag sein, dass das Ankh in diesem Meer liegt, aber es ist nicht verloren. Es ist da. Es ist alles in mir. Es ist niemals etwas verloren, es geht niemals etwas verloren. Kein Gedanke irgendeines Menschen, kein Gefühl und keine Tat. Kein Mensch ist in diesem Meer verloren, ob er nun lebt oder tot ist seit 2000 Jahren. Denn wie der Raum relativ ist – denn das Ankh ist nicht verloren, ist in diesem Meer, gleich hier – so ist auch die Zeit relativ. Kein Mensch, von Anbeginn an, und kein Gedanke, geht jemals verloren. Alles hat seine Bedeutung für das Ganze und das Ganze wäre unmöglich, würde nur ein einziger Gedanke fehlen, ob er jetzt gedacht wird oder von dem unbedeutendsten Menschen vor 10.000 Jahren. Alles ist in mir, alles macht mich aus.
Ich treibe in der Trance dieser Erkenntnis, treibe in dem gewaltigen Torus, der der Strom, aller Existenz ist, indem alles kommt und geht und in dem wahrlich alles nicht-eines ist.
Doch dann bemerke ich am Rand meiner Aufmerksam ein merkwürdiges, noch nie gehörtes Geräusch an diesem menschenleeren Felsenstrand. Ein Geräusch, das sich vom Rauschen des Windes und der Wellen deutlich abhebt. Uq – uq – uq. Lauter werdend, dann leiser werdend, verschwindend, faszinierend. Dann kommt es wieder. Uq – uq – uq . Merkwürdig. Ich beende meine Meditation; öffne meine Augen und sehe bald einen Schatten um mich herumirren. Ich stehe auf. Uq – uq – uq. Was ist das? Ich versuche die Umrisse zu erkennen, und dann habe ich es: Ein Hund. Er streift um mich herum hält, doch hält stets Abstand von gut 10 Metern. Er will etwas von mir. Ich rufe ihn, ich locke ihn. Doch er kommt nicht zu mir, zieht Kreise um mich, schnüffelnd, verschwindet in der Dunkelheit und ist plötzlich wieder da, wie eine Welle. Uq – uq – uq.
Dann erkenne ich. Ich sage laut: Du bist kein Hund. Und das Universum verändert sich. Unmittelbar kommt der Hund auf mich zu bleibt neben mir stehen, dass sein weiches Fell fast meine rechte Wade berührt, aber nur fast. Er verharrt einen Moment. Und verschwindet dann in der Nacht.
aus: http://phaenomen-verlag.de/uploads/media.../Das%20Ankh.pdf
Die Wahrheit wiegt meistens schwer.