Da spricht zum Beispiel die ägyptische Legende von dem Götterpaare Osiris und Isis, und die ägyptische Legende nennt Hermes den weisen Ratgeber des Osiris. In Osiris sieht die Legende ein Wesen, das in grauer Vorzeit auf dem Gebiete gelebt habe, auf dem nunmehr die Menschen leben. Dieser Osiris, der von der Legende dargestellt wird als der Wohltäter der Menschheit, unter dessen weisem Einfluss Hermes oder Thoth den Ägyptern ihre alte Kultur gegeben hat bis in das materielle Wesen dieser Kultur hinein, dieser Osiris hatte einen Feind. Denselben nannte der Grieche dann Typhon. Dieser Feind stellte dem Osiris nach, tötete ihn, zerstückelte den Leichnam, verbarg ihn in einem Sarg und warf ihn ins Meer. Die Schwester und Gattin Isis suchte den Osiris, suchte lange nach dem Gatten, der ihr durch Typhon oder Seth entrissen worden war, und als sie ihn endlich fand, sammelte sie die Stücke, in die ihn Typhon oder Seth zerstückelt hatte, begrub ihn an verschiedenen Orten des Landes, wo dann Tempel errichtet wurden und gebar wie ein nachgeborenes höheres Wesen den Horus, der also erst entstanden war nach dem Tode des Osiris - nur durch einen geistigen Einfluß, der von dem mittlerweile in eine andere Welt gegangenen Osiris auf die Isis übergegan-gen war. Und Horus ist nun dazu berufen, Typhon zu besiegen und in einer gewissen Weise die Herrschaft jenes Lebens wieder einzuführen, das - von Osiris ausgehend -in die Menschheit einströmen sollte.
Eine solche Legende muss man nicht bloß allegorisch und symbolisch auslegen, sondern sich ein wenig in die ganze Gefühls- und Empfindungswelt der alten Ägypter hineinbegeben können; denn daraus wird - was wichtiger ist als alle abstrakten Vorstellungen - das Gefühl und die Empfindung gegenüber solchen Gestalten wie Osiris und Isis zunächst lebendig. Es ist nicht gut, wenn man solche Gestalten wie Osiris und Isis dahin auslegen will, dass man in Osiris von vornherein die Sonne, in Isis von vornherein den Mond und dergleichen sieht und so eine astronomische Auslegung gibt, wie das Wort heute von der äußeren Wissenschaft gebraucht wird, wobei man glaubt, es wären bloß gewisse Vorgänge am Himmel durch eine solche Legende versinnlicht. Das ist nicht der Fall. Sondern wir müssen auf uralte Gefühle der Ägypter zurückgehen und uns aus diesen Gefühlen heraus die ganz eigenartige Natur des Aufblickens zu übersinnlichen, unsichtbaren Mächten vorstellen, zu solchen übersinnlichen, unsichtbaren Mächten, welche der Sinneswelt zugrunde liegen und die in ihren gegenseitigen Verhältnissen zunächst in Osiris und Isis charakterisiert sind. Bei diesen beiden Namen empfand der alte Ägypter ungefähr folgendes.
Der Menschheit liegt, sagte er sich, ein Höheres, Geistiges zugrunde. Das ist nicht vom materiellen Dasein ausgegangen, in welchem sie jetzt lebt, sondern sie hat sich zu dem jetzigen physischen Menschendasein sozusagen erst hereinverdichtet, nach und nach hereinentwickelt. Von einem andern Menschendasein mehr geistigerer Art ging die eigentliche Menschheitsentwickelung aus. Blicke ich nun in die eigene Seele, so werde ich mir Bewusst, dass in mir etwas liegt, was Sehnsucht nach einem Geistigen, Sehnsucht zugleich nach dem Ursprünge, aus dem ich selber aus dieser geistigen Welt herabgestiegen bin, bedeutet. Die Kräfte, von denen ich herstamme, leben noch in mir selber. Was ich als meine besten übersinnlichen, unsichtbaren Kräfte in mir trage, das ist innig diesen ursprünglichen übersinnlichen Kräften verwandt. Daher fühle ich in mir eine Osiris-Kraft. Sie stellt mir ein übersinnliches Menschenwesen dar, das einstmals in anderen, übersinnlichen Regionen gelebt hat. Wenn es auch dort dumpf, instinktiv gelebt hat, wenn es auch erst mit dem physischen Leib und seinen Werkzeugen hat umkleidet werden müssen, um die physische Welt anzuschauen, so lebte es doch gegenüber diesem physisch-sinnlichen Leben ehedem in einem geistigen Leben.
Die Kräfte, welche der Menschheitsentwickelung ursprünglich zugrunde liegen, müssen nach altägyptischer Anschauung in einer Zweiheit erfasst werden, in einer solchen Zweiheit, dass man das eine Element derselben mit dem Namen Osiris und das andere mit dem Namen Isis belegt: Osiris-Isis. Wenn wir in uns selber blicken und dabei die Empfindungen, das Gefühl des alten Ägypters gebrauchen, so können wir uns sagen: Wir haben in uns zunächst das aktive Denken. Man braucht sich nur zu erinnern, wie gedacht werden muss, wenn ein Gedanke zuletzt entsteht, wenn wir zum Beispiel den Gedanken eines Dreieckes in uns haben. Da muss das aktive, das tätige Denken vorangehen, um den Gedanken eines Dreieckes zu bilden. Nachdem wir in der Seele tätig waren, können wir uns passiv zu dem Ergebnis unseres Denkens, zu unseren Gedanken und Vorstellungen wenden. Wir sehen zuletzt in unserer Seele die Gebilde unseres aktiven Denkens. Wie nun das Denken zu den Gedanken, wie das Vorstellen zu den Vorstellungen, wie das Tätige zu dem, was aus dem Tätigen wird und zuletzt vor uns steht, so verhält sich Osiris zu Isis. Man möchte auch sagen: Das Tätige erscheint uns wie ein Väterliches, wie ein männliches Prinzip: das Osiris-Prinzip, wie ein Kämpfendes, das dann unsere Seele erfüllt, anfüllt mit Gedanken und Empfindungen. Und wie der Mensch hier steht, sagte sich der alte Ägypter, wie die Stoffe, die in seinem Blut leben oder seine Knochen bilden, nicht immer in seinem Blut und in seinen Knochen waren, sondern draußen im Weltenraume zerstreut vorhanden waren, wie dieser ganze physische Leib ein Zusammenschluss von physisch verfolgbaren Stoffen ist, die hereinwandern in die menschliche Form, während sie vorher draußen im Universum ausgebreitet waren,so ist es mit unserer Denkkraft: sie ist in uns Vorstellungskraft. So wie die Stoffe in unserem Blut einmal drinnen sind in der Menschenform und das andere Mal draußen ausgebreitet sind, so ist die Osiris-Kraft als Denkkraft in uns tätig und ausgebreitet im geistigen Weltall als Osiris, als die das ganze Weltall durchlebende und durchwebende Osiris-Kraft, die ebenso einzieht in den Menschen wie die Stoffe, die dann das Blut und die Knochen im Körperhaften des Menschen zusammensetzen. Und in die Gedanken und Vorstellungen und Begriffe fließen ein die um das Universum webenden und lebenden Isis-Kräfte. So müssen wir uns zunächst den Aufblick in der Seele des alten Ägypters zu Osiris und Isis vorstellen.
Für solche Vorstellungen konnte das alte Bewusstsein keinen Ausdruck finden innerhalb derjenigen Welt, die uns hier auf der Erde in unserer Sinnlichkeit umgibt. Denn alles, was uns hier zunächst umgibt, galt eben als sinnliche Welt, die keine äußeren Sinnbilder darbieten konnte für die übersinnliche Welt. Um nun etwas wie eine Art von Sprache, von schriftlichem Ausdruck für solche Vorstellungen zu gewinnen, welche die Seele mächtig bewegten, wenn sie sich sagte: die Osiris-Isis-Kraft wirkt in mir - griff man hinauf zu der Schrift, welche die Himmelskörper im Weltenraume schreiben. Man sagte: Was man an übersinnlicher Kraft als Osiris empfindet, das kann man sich versinnlicht denken in dem, was als Sonnenlicht von der Sonne ausgeht und den Raum durchwebt und durchlebt als die tätige Lichtkraft. Und in dem, was man als Isis empfindet, kann man das sehen, was uns als reflektiertes, zurückgeworfenes Sonnenlicht vom Monde kommt, der an sich dunkel ist - wie die Seele, wenn nicht das tätige Denken in sie fällt -und auf das Licht der Sonne wartet, um es zurückzuwerfen, wie die Seele auf die Osiris-Kraft wartet, um sie als Isis-Kraft zurückzuwerfen. Wenn so der alte Ägypter empfand: Draußen sagen mir die Sonne und der Mond, wie ich am besten sinnbildlich denken kann über das, was meine Seele empfindet, - dann wusste er zugleich: Es ist doch kein zufälliger Zusammenhang zwischen dem, was da geheimnisvoll im Räume erscheint als die lichtverbreitende Sonne und der das Sonnenlicht zurückwerfende Mond, sondern was ich da als den Raum durchleuchtend, Licht verbreitend und Licht zurückwerfend sehe, das muss etwas mit den Kräften zu tun haben, die ich als übersinnliche in mir emp-finde. - Wie wir in der Uhr nicht etwas sehen, was durch kleine Dämonen seine Zeiger treibt, sondern etwas Mechanisches, so wissen wir doch auch, dass der ganzen Zusammenfügung der Uhr der Gedanke des Uhr-Erfinders zugrunde liegt, der aus der Seele des Menschen gekommene Gedanke, so dass also ein Geistiges den Mechanismus der Uhr geformt hat. So wie die Zeiger einer Uhr zueinander stehen, abhängig voneinander freilich, - und wenn wir in den Raum hinausblicken, durch mechanische Gesetze beherrscht, aber zuletzt doch abhängig von den Gesetzen, die der Mensch in seiner Seele empfindet, wenn er von der Osiris- und Isis-Kraft spricht -, so erschien als Ausdrucksmittel einer gewaltigen Weltenuhr Sonne und Mond. Und der Ägypter sagte sich nicht nur: Sonne und Mond versinn-lichen mir die Beziehung zwischen Osiris und Isis, sondern er empfand: Was in mir lebt, das liegt ursprünglich jenem geheimnisvollen Kräfteverhältnis zugrunde, welches das Licht trägt zu Sonne und Mond.
So wie es in bezug auf Osiris und Isis gegenüber Sonne und Mond war, so war es in bezug auf andere Gestirne und Planeten bei den andern Göttern. Die Ägypter sahen in der Stellung der Himmelskörper zunächst Sinnbilder für das, was sie als Übersinnliches erlebten oder was ihnen überliefert war als Erlebnisse der ältesten Hellseher. Sie sahen aber in diesem Ausdruck einer Weltenuhr die Darstellungen derselben Kräfte, die sie zuletzt in der menschlichen Seele empfanden. So wurde die große Weltenuhr mit der Bewegung ihrer Sterne und dem Verhältnis der bewegten Sterne zu den ruhenden Sternen eine Offenbarung der geistigen, übersinnlichen Kräfte, die dahinterstanden, die diese Stellungen hervorgerufen haben und sich in einer universellen Schrift, die man zu verstehen hat, ein Ausdrucksmittel für ihre übersinnlichen Mächte und Kräfte verschafften.
Das sind die Gefühle und Empfindungen gegenüber dieser höheren Welt, welche die alten Ägypter durch Hellseher über jene geistige Welt überliefert erhielten, von der sie wussten, dass sie besteht, weil sie die letzten Nachklänge des alten Hellsehens selbst noch hatten. Nun aber sagten sie sich: Wir Menschen stammen aus dieser geistigen Welt. Aber wir sind hereingestellt in eine Welt der Sinnlichkeit, die uns in den sinnlich-physischen Dingen und im sinnlichphysischen Geschehen gegeben ist. Wir stammen aus der Welt von Osiris und Isis. Was als der beste Teil in uns strebt und höhere Vollkommenheitsstufen erreichen kann als die, welche wir jetzt haben, ist ausgeflossen von Osiris und Isis. Diese leben unsichtbar in uns als Kraft. Was der physische Mensch ist, stammt aus äußeren Verhältnissen, ist der äußeren Welt entnommen, darinnen ist der Osiris-Isis-Teil nur eingekleidet.
Eine solche Vorstellung uralter Weisheiten wurde aber in der Seele des alten Ägypters eine diese Seele ganz beherrschende Empfindung, ein ganz umfassendes Gefühl des ägyptischen Seelenlebens. Man kann abstrakte Vorstellungen in die Seele aufnehmen, ohne dass das Moralisch-Ethische des 6 Seelenlebens, oder auch das Schicksalsmäßige, das Glückhafte des Seelenlebens berührt wird; ja, besonders mathematisch-abstrakte Vorstellungen der Naturwissenschaft kann man so aufnehmen, kann über Elektrizität und ähnliche Kräfte debattieren, ohne dass die Seele die Frage nach dem Schicksal an den Menschen stellen muss. Aber man kann nicht die eben charakterisierten Gefühle und Empfindungen über das Hineinschauen in die geistigen Welten und das Sich-verwandt-Denken der tiefsten Seeleneigenschaften mit Osiris und Isis als Gedanken und Ideen fassen, ohne dass die Glücks- und Schicksalsgedanken aufgerührt würden, die moralischen Impulse des Menschen. Ja, die werden aufgerüttelt! Denn da sagt sich der Mensch: Ich trage ein besseres Selbst in mir, aber durch das, was ich im physischen Leibe bin, tritt zunächst dieses bessere Selbst zurück, wird zunächst nicht ganz offenbar. Mir liegt eine Osiris-, eine Isis-Natur zugrunde, aber die gehört den Ursprungswelten, den alten goldenen, heiligen Zeiten an. Für den gegenwärtigen Menschen ist sie durch die Kräfte überwunden worden, die das äußere Physische zum Menschenleib geballt haben und die Osiris- und Isis-Kräfte in den Leib eingekerkert haben, der verweslich ist und der Zerstörung unterliegt wie die äußeren Naturkräfte.
So sehen wir die Legende von Osiris und Isis in Empfindungen umgesetzt. Osiris, des Menschen höhere Kraft, die im Weltenraume ausgebreitet ist, wird von denjenigen Kräften überwunden, welche der Zerstörung in der Menschennatur unterliegen. Von Typhon wird eingekerkert, was als Osiris-Kraft im Menschen lebt. Typhon hängt sogar sprachlich mit dem Worte «auflösen, verwesen» zusammen. Sie wird eingekerkert in das, was wie ein Sarg des geistigen Menschenteiles geformt wird, in welchem - unsichtbar für die äußere Welt - der Osiris-Teil des Menschen verschwindet. Aber es bleibt als ein Geheimnisvolles für die Vorstellungen des alten Ägypters die Seelennatur darin, die für den Menschen die geheimnisvolle Isis-Natur ist. Sie bleibt, um in der Zukunft — und zwar mit Durchdringung der intellektuellen Kraft - das wieder zu erreichen, aus dem der Mensch hervorgegangen ist. So strebt also etwas in dem Menschen Verborgenes darnach, den Osiris wieder zu beleben. Die Isis-Kraft ist in der menschlichen Seele, um den Menschen aus dem, was er gegenwärtig ist, nach und nach wieder zum Osiris hinzuführen. Und diese Isis-Kraft macht es, dass der Mensch, allerdings nicht, solange er physischer Mensch bleibt, sich von der physisch-sinnlichen Natur absondern kann, aber sie macht es, dass der Mensch, ob er zwar ein äußerer, physischer Mensch bleibt und voll in der äußeren, physischen Welt steht, doch in seinem Inneren immerfort den Aufblick hat zu einem höheren Ich, das nach der Anschauung aller bedeutendsten Geister der Menschheit tief verborgen allen menschlichen Kräften zugrunde liegt. Dieser Mensch, der nicht der äußere, physische Mensch ist, sondern der Mensch, der zum geistigen Licht aufzustreben immerfort den Ansporn hat, immer von den verborgenen Isis-Kräften getrieben wird, ist es, der wie der irdische Sohn des nicht in der irdischen Welt aufgegangenen, sondern in den geistigen Welten verborgen gebliebenen Osiris erscheint. Dieser unsichtbare Mensch, der Mensch des Strebens nach dem höheren Selbst, wurde von der ägyptischen Seele als Horus empfunden, als der nachgeborene Sohn des Osiris. So blickte mit einer gewissen Wehmut der alte Ägypter hin zu dem Osiris-Ursprung, den der Mensch hat, blickte aber zugleich hinein in die Seele und sagte: Die Seele hat noch etwas von der Isis-Kraft erhalten, die selbst den Horus gebiert, der immer den Ansporn hat, hinaufzustreben zu den geistigen Höhen. Und in diesen geistigen Höhen findet der Mensch wieder den Osiris. — Aber in zweifacher Weise ist für den gegenwärtigen Menschen der Osiris wieder zu erreichen. Der Ägypter sagte sich: Ich bin ausgegangen von dem Osiris und wieder kommen soll ich zu dem Osiris. In bezug auf meinen geistigen Ursprung ist Osiris in mir, und Horus leitet mich an, wieder zum Osiris, zu seinem Vater zu kommen. Osiris ist aber nur in der geistigen Welt zu erreichen. Er konnte nicht eingehen in die physische Men-schennatur. Dort ist er überwunden worden von den Typhon-Kräften, die der Zerstörung unterliegen, weil sie äußere Naturkräfte sind.
Daher ist der Osiris nur auf zwei Wegen zu erreichen. Der eine Weg ist der, welcher durch die Pforte des Todes geht. Der andere ist der, welcher durch die Pforte desjenigen Todes geht, der nicht zum physischen Sterben führt, sondern zur Initiation, zur Einweihung geht. Daher stellte sich der Ägypter vor, was auch noch weiter ausgeführt ist in meiner Schrift «Das Christentum als mystische Tatsache»: Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, kommt er nach den nötigen vorbereitenden Stadien zum Osiris. Es erwacht in ihm, wenn er von der irdischen Leibeshülle befreit ist und in der geistigen Welt steht, das Bewusstsein seiner Verwandtschaft mit Osiris. Der Tote selber fühlt sich so, dass er in der geistigen Welt nach dem Tode angesprochen werden kann als «Osiris». Jeder wird sozusagen nach dem Tode als Osiris angesprochen. Der andere Weg zum Osiris zurück - der andere Weg in die geistige Welt also - ist der Weg der Einweihung oder Initiation. Diesen stellte sich der Ägypter so vor, dass durch ihn der Mensch das kennenlernt, was zunächst unsichtbar, übersinnlich in der menschlichen Natur vorhanden ist. Das ist Isis oder die Isis-Kraft. Im alltäglichen Erkennen, in demWissen, das wir im Alltagsleben haben, dringen wir nicht bis zu den Tiefen unserer Seele, bis zur Isis-Kraft vor.
Aber es gibt einen Weg, um bis zur Isis-Kraft vorzudringen, um herunterzusteigen bis zum eigenen Ich, um zu sehen, wie dieses Ich von der physischen Materie umhüllt ist. Geht man diesen Weg, so kommt man dort hinunter, wo das Ich in seiner eigentlichen geistigen Heimat ist. Deshalb sagte sich der alte Ägypter: Du musst also in dein eigenes Inneres hinuntersteigen. Dort findest du zunächst die physische Menschennatur, insofern sie der Ausdruck des eigentlichen Menschen selbst ist, des Ich. Durch diese physische Menschennatur musst du hindurchdringen. Die Außenwelt, insofern sie die Schöpfung der geistigen, übersinnlichen Mächte ist, erblickst du in den drei Reichen der Natur: wenn du auf die Steine siehst und auf ihre mathematischen Formen, wenn du auf die Pflanzen siehst und auf ihre merkwürdigen Formen, die von innerem Leben belebt sind, in dem göttlich-geistige Kräfte wirken, und endlich auch im dritten Reich, im Tierreich. Beim Menschen aber darfst du nicht an der äußeren Form stehenbleiben, sondern musst in das, wo seine Seelenkräfte als Isis-Kräfte leben, untertauchen. - Daher war mit der Einweihung in die Isis-Mysterien das verbunden, was zunächst dem Menschen sich selbst zeigen sollte, wo er schauen sollte, wie er in Stoff eingekleidet ist. Was da geschah, wenn so der Mensch in seine eigene Natur untertauchte, das war dasselbe, was im Grunde genommen im Tode geschieht, nur auf eine andere Weise. Der Mensch musste durch die Pforte des Todes bei lebendigem Leibe gehen, musste jenen Übergang vom physischen Schauen zum überphysischen Schauen, von der physischen Welt in die geistige Welt kennenlernen, - jenen Übergang, den der Mensch beim Durchgehen durch den wirklichen Tod durchmacht. Der einzuweihende Mensch musste diesen Weg im Hinuntersteigen in das eigene Innere durchmachen, musste kennenlernen, was nur beim Hinuntersteigen in das eigene Innere zu erleben ist. Da kam er zunächst in das körperliche Innere, in die Art und Weise, wie aus der Natur das herausgeformt wird, was physisches Werkzeug ist für das Ich: das Blut. Wir haben es öfter angeführt: während für das Fühlen, Wollen und Denken das Nervensystem die Werkzeuge bildet, müssen wir das Werkzeug des Ich in dem Blut sehen. Will der Mensch in seine Werkzeuge hinuntersteigen, so muss er - wie der alte Ägypter es sich dachte - hinuntersteigen in seine physisch-ätherische Hülle, in das Ätherisch-Seelenhafte, muss lernen, unabhängig zu werden von der Kraft, von der sonst der Mensch in seinem Blute abhängig ist, und muss sich - nachdem er sich von ihr abgesondert hat - in die merkwürdigen Gänge des Blutes selbst hineinbegeben. Der Mensch muss erst seine höhere Natur physisch kennenlernen. Das kann er nur, wenn er sich so kennenlernen kann, dass er sich wie einen Gegenstand anschaut. Der Mensch kann einen Gegenstand als Objekt nur erkennen, wenn er außerhalb desselben ist. So muss er außer sich sein, um sich zu erkennen. Daher führt die Einweihung zu solchen Kräften, durch welche die Seelenkräfte etwas erleben können, ohne die physischen Werkzeuge zu gebrauchen, so dass der Mensch die physischen Werkzeuge - in ähnlicher Weise wie nach dem Tode der geistige Teil des Menschen auf den physischen Leib herunterschaut - als Objekt vor sich hat. So sollte in den Isis-Mysterien der Mensch zunächst sein Blut kennenlernen.
Da machte der Mensch zunächst etwas durch, was man nicht besser bezeichnen kann als: das Herankommen bis an die Schwelle des Todes. Das war die erste Stufe der Einweihung in die Isis-Mysterien: der Mensch musste sein Blut, sich selber anschauen als Objekt, musste untertauchen in die Hülle, die das Werkzeug ist für seine Isis-Natur. Da wurde er in den Einweihungsstätten an zwei Tore geführt, wo in Bildern, die er am eigenen Leibe erlebte, ihm gezeigt wurde: So sieht es aus, wenn du dir das einmal vor die Seele malst, was in deinem Inneren vorgeht. - Zwei Tore zeigten sich ihm da, ein geschlossenes Tor und ein offenes Tor. Und wir müssen sagen: Merkwürdig, diese Lehren, die da aus Jahrtausenden zu uns herüberklingen, wie sie wieder stimmen zu dem, was der Mensch heute auch glaubt, nur dass er es sich heute materialistisch interpretiert. Ich konnte schon bei Gelegenheit des Zarathustra-Vortrages darauf hindeuten. Zwei Tore trifft der Mensch, so sagte der alte ägyptische Hellseher, wenn er in der Unterwelt ist. Durch zwei Tore trittst du in dein Blut und in dein Inneres ein. Der Anatom kann sagen: durch die zwei Eingänge, die in den beidseitigen Klappen des Herzens liegen. Wenn er eindringen wollte durch seinen Leib, so würde er durch das «offene Tor» eindringen. Durch das «geschlossene Tor» wird verhindert, dass der Blutstrom einen unrichtigen Weg nimmt. In dem, was uns anatomisch entgegentritt, sind die Sinnbilder enthalten für das, was - allerdings in hellseherischen Formen und Gebilden - die alten Weisen erlebten, die zwar nicht so unmittelbar wie der moderne Anatom die anatomischen Gebilde vor sich hatten, wohl aber das, was das hellseherische Bewusstsein sieht, wenn es selber auf das Innere von außen hinsieht.
Die nächste Stufe der Isis-Einweihung bestand in dem, was dadurch ausgedrückt wird, dass man sagt: Der Mensch wird geführt durch die Feuer-, Luft- und Wasser-Probe. Das heißt, er lernt ganz kennen die Hüllen-Natur seines Isis-Wesens; er lernt kennen das Feuer, wie es in seinem Blute als 8 Werkzeug durch den Leib fließt und wie es zur Flüssigkeit wird; er lernt weiter kennen, wie die Luft ein-dringt als Sauerstoff. Feuer, Luft und Wasser: Wärme des Atemlaufes, Flüssigkeit des Blutes lernt der Mensch kennen. Und geläutert wird der Mensch, indem er so seine Hüllen-Natur kennenlernt durch die Elemente von Feuer, Luft und Wasser; und wenn er so seine Hüllen durchschaut hat, ist er bei seiner Isis-Natur angekommen. Das wird wieder technisch ausgedrückt dadurch, dass man sagt: Nun fühlt sich der Mensch erst zu sich gekommen, dass er sich jetzt als geistige Wesenheit weiß und sich nicht mehr beschränkt weiß auf die Menschheit der äußeren Welt, sondern in die geistige Welt hineinschaut. Denn es ist ein Gesetz, dass wir die physische Sonne nur bei Tage schauen, weil sie uns bei Nacht zugedeckt ist durch die Materie. In der geistigen Welt aber gibt es kein solches Zudecken. Da sieht man die geistigen Mächte gerade dann, wenn die physischen Augen unwirksam sind. Das bezeichnet symbolisch die Isis-Einweihung damit, dass sie sagt: Der Mensch gelangt, wenn er geläutert ist, dazu, die geistigen Wesen von Angesicht zu Angesicht zu schauen: die Sonne um Mitternacht zu schauen. Das heißt: wenn es dunkel und finster ist, ist dennoch das, was als geistiges Leben und als geistige Urkraft der Sonne zugrunde liegt, für den in die Isis-Mysterien Eingeweihten sichtbar.
So wird uns der Weg zu den Isis-Kräften der Seele beschrieben, wie er von denjenigen gegangen werden konnte, die noch im Leben die tiefsten Kräfte der Seele aufsuchten. Dann gab es noch höhere Mysterien, welche die eigentlichen Osiris-Mysterien waren. Da wurde tatsächlich dem Menschen klar, wie man durch die Isis-Kraft sich bei jener Urkraft geistiger, übersinnlicher Art fand, aus welcher der Mensch hervorgegangen ist: bei Osiris - wie Osiris der Menschenseele aufgeht. Wenn nun der Ägypter in einer besonderen Schrift zum Ausdruck bringen wollte, auf seine Weise hinmalen wollte die Art, wie sich Isis zum Osiris verhält, so drückte er es aus durch das Wandeln von Sonne und Mond am Himmel, und die anderen geistigen Mächte durch die Verhältnisse der andern Sterne. Vor allem kam dabei in Betracht der Tierkreis mit seiner verhältnismäßigen Ruhe und was sich an Planeten bewegt über die Tierkreisbilder hin. In allem, was sich darin enthüllte, sah der alte Ägypter die Art, wie er am besten in einer geistigen Schrift zum Ausdruck bringen konnte, was seine Seele bewegte. Er wusste: Von dem, was auf der Erde ist, kann ich nichts nehmen, um auszudrücken, wozu der Mensch berufen ist, wenn er der Isis-Kraft zum Osiris folgt; das muss, wenn es beschrieben werden soll, aus der Konstellation der Sterne hergeholt werden. - Das führte dazu, dass der große Weise, der in grauer Vorzeit existierend gedacht werden muss, nach Anschauung der Ägypter vor allen Dingen den tiefsten hellseherischen Einblick hatte in dieses eben nur skizzenhaft dargestellte Verhältnis der Menschheit zum Universum, und dass er zum höchsten Ausdruck gebracht hat, was die Konstellation der Sterne war in bezug auf diese geistigen Kräfte und ihr Geschehen und die zwischen ihnen spielenden Tatsachen. In Sternensprache drückte er aus, was geschah. Sollte so zum Beispiel ausgedrückt werden, wie sich Osiris zu Isis verhält, so konnte man es in Form der Legende - exoterisch - dem Volke sagen. Für die, welche dann in die Einweihung geführt wurden, drückte man das genauere Verhältnis aus in dem Verhältnis des von der Sonne ausgehenden, vom Monde zurückgeworfenen und in merkwürdigen Verhältnissen vom Neumonde durch die Viertel zum Vollmonde gehenden Lichtes. Man erblickte darin mit Recht etwas, was ähnlich war dem Verhältnis der Isis-Kraft der menschlichen Seele zu Osiris. Und dann wurde von diesen Verhältnissen am Himmel und ihren Formen hergenommen, was man wirklich als die Urformen der Schrift ansehen kann. Denn so wenig, wie die Menschen dies in der Schrift noch erkennen, so sehr muss man sagen: In den Konsonanten hat man Nachbildungen der Tierkreiszeichen zu erblicken, des verhältnismäßig Ruhenden. Und in dem Verhältnis der Vokale zu den Konsonanten hat man Nach-bildungen des Verhältnisses der Planeten und ihrer beweglichen Kräfte zum Tierkreis. Vom Himmel heruntergeholt, muss man sagen, sind die Schriftzeichen.
So empfanden die alten Ägypter gegenüber dem Hermes, dessen Lehrer wiederum waren die Kräfte, die vom Himmel herunter sprachen und das kündeten, was in den Menschenseelen sich auslebt. Ja, mehr noch: Was in den menschlichen Taten, selbst in aller Alltagstätigkeit des Lebens sich auslebt, was in Verrichtungen wie Feldmesskunst sich auslebt, zu denen notwendig waren mathematische Wissenschaften, Geometrie - die dann Pythagoras von den Ägyptern gelernt hat -, das wurde zurückgeführt von den alten Ägyptern auf die Weisheit des Hermes, der sozusagen in allen irdisch-räumlichen Verhältnissen etwas wie Abbilder der himmlischen Verhältnisse gesehen hat und die himmlischen Verhältnisse in der Sternenschrift dargestellt hat. Die Sternenschrift hat Hermes heruntergetragen in die Mathematik und Geometrie, hat die Ägypter gelehrt, in den Sternen etwas zu finden, was auf der Erde vorgeht. Wir wissen, dass das ganze ägyptische Leben zusammenhing mit den Überschwemmungen des Nils, mit dem, was der Nil aus den Gebirgsgegenden absetzte, die südlich von Ägypten lagen. Wir können aber auch daraus ermessen, wie nötig es war, in einer gewissen Weise vorauszuwissen, wann diese Überschwemmungen des Nils eintreten können, wann die Umgestaltung der 9 natürlichen Verhältnisse im Laufe eines Jahres sich richtig ergeben kann. Ihre Zeitrechnung nahmen die Ägypter auch noch von der Sternenschrift am Himmel. Wenn der Sirius, der Hundsstern, sichtbar wurde in dem Zeichen des Krebses, dann wussten sie: es kommt bald die Sonne in jenes Zeichen, von dem herabgehend ihre Strahlen sozusagen hervorzaubern, was auf dem Erdboden der Nil mit seinen Überschwemmungen bringt. So wussten sie: Sirius ist der Wachsame, er kündigt an, was wir zu erwarten haben. Das war ein Teil ihrer Sternen-Weltenuhr. Um in richtiger Weise das Land zu bebauen und zu beherrschen, was für das äußere Leben nötig war, blickte man dankbar hinauf zum Hundsstern. Und man blickte weiter hinauf, wo in altersgrauen Zeiten die Lehre ihnen gegeben worden ist, dass die Bewegung der Sterne der Ausdruck ist der Weltenuhr. Für solche und ähnliche Verhältnisse haben sich die Ägypter Rat geholt in der Sternenschrift. In Thoth oder Hermes sahen sie denjenigen Geist, der nach den alten Überlieferungen die urältesten Aufzeichnungen der Weltenweisheit gemacht hat, und der nach dem, was er als Inspiration aus der Sternenschrift heraus empfangen hat, die physischen Buchstaben gebildet hat, der den Menschen den Ackerbau gelehrt, die Geometrie, die Feldmesskunst gegeben hat - kurz, alles das gelehrt hat, was die Menschen zum physischen Leben brauchen. Alles physische Leben aber ist nichts anderes als der Leib eines geistigen Lebens. Das geistige Leben aber hängt zusammen mit dem ganzen Weltall, und aus diesem heraus war Hermes inspiriert. So erschien bald die ganze Kultur verbunden mit Hermes. Ja, die Ägypter fühlten sich in noch innigerer Weise mit ihm verbunden. Nehmen wir zum Beispiel an, dass ein Ägypter im Jahre 1322 vor unserer Zeitrechnung zum Himmel hinaufsah, so sah er eine ganz besondere Sternkonstellation. Denn die alten Ägypter hatten eine Zeitrechnung, die für die menschlichen Verhältnisse - besonders für das menschliche rechnerische Denken - zunächst bequem war: zwölf Monate zu dreißig Tagen, das gibt - mit fünf Ergänzungstagen - für das Jahr 365 Tage. So hatten sie gerechnet durch die Jahrhunderte hindurch, denn das war sozusagen mathematisch, rechnerisch bequem: ein Jahr war abgelaufen, wenn 365 Tage abgelaufen waren. Da blieb, wie wir aus der gegenwärtigen Astronomie wissen, ein viertel Tag jedesmal unberücksichtigt; das heißt, wenn das ägyptische Jahr zu Ende gerechnet war, so war es um einen viertel Tag zu früh. Wenn Sie es sich ausrechnen, können Sie darauf kommen, dass mit jedem Male das Jahr früher begann: es rückte das Jahr monateweise herein und rückte dann wieder an den Anfang. Das war der Fall nach vier mal 365 Jahren. Nach 1460 Jahren also war jedesmal die Tatsache eingetreten, dass die Himmelsverhältnisse sich wiederum mit der irdischen Rechnung ausgeglichen hatten, indem durch 1460 Jahre hindurch das gesamte Jahr zurückgegangen war. Wenn Sie das dreimal zurückrechnen, von dem Jahre 1322 vor unserer Zeitrechnung angefangen, so kommen Sie hinauf zu der Periode, bis zu welcher die Ägypter ihre uralte heilige Weisheit zurückschrieben, so dass sie sagten: In den alten Zeiten war noch hellstes Hellsehen vorhanden. Mit jedem solchen großen Sonnenjahr, das einen Ausgleich der irdischen Zeitrechnung herbeiführte, hatte die alte hellseherische Kraft um eine Stufe abgenommen. Wir leben jetzt in die vierte Stufe hinein. Unsere Kultur geht schon da hinein, wo wir nur mehr Überlieferungen einer altersgrauen Lehre haben können. Aber wir blicken hinauf durch drei Weltenjahre hindurch zu einer großen Vorzeit, in welcher unser größter Weiser seine Schüler und Nachfolger gelehrt hat, was wir heute - vielfach umgewandelt - in der Schrift haben, in der Mathematik, Geometrie, Feldmesskunst, in allen übrigen ge-bräuchlichen Handhabungen unseres Lebens, auch in der Astronomie. Gleichsam sagte sich der alte Ägypter: Uns zeigt unsere menschliche Berechnung, die sich an die bequemen Zahlen von zwölf mal dreißig plus fünf Ergänzungstagen hält, wie uns die göttlich-geistige Welt korrigieren muss. Denn durch das, was wir in unserem Verstande haben, sind wir selbst dem Osiris und der Isis fremd geworden. Wir können nicht genau das Jahr berechnen. Aber wir blicken hinauf in eine verborgene Welt, da korrigieren uns die Mächte, welche die Sterne lenken.
So blickte der alte Ägypter selbst für seine Chronologie als von seiner menschlichen schwachen Kraft aus, die an den Verstand gebunden ist, zu den geistigen Kräften und Wesenheiten auf, die im Verborgenen leben und nach tieferen Gesetzen dasjenige korrigieren, beschützen und bewachen, was die Menschen auf der Erde zu durchleben haben. Und als denjenigen, der von diesen wachsamen Himmelskräften inspiriert wurde, verehrte der alte Ägypter seinen Thoth, seinen Hermes. Daher war diese Individualität für die Seele des alten Ägypters nicht etwa bloß ein großer Lehrer, sondern eine solche Wesenheit, zu der er mit tiefsten Dankgefühlen, tiefster Verehrung hinaufblickte, indem er sich sagte: Alles, was ich habe, habe ich von dir. Du stehst oben in einer altersgrauen Zeit und schicktest durch die, welche die Träger deiner Überlieferungen waren, das herunter, was in die äußere Menschenkultur einfließt und den Menschen zur größten Wohltat wird. Dadurch fühlte sich die Seele des alten Ägypters - sowohl in bezug auf den eigentlichen Urheber der Kräfte wie in bezug auf den Hüter derselben, sowohl für Osiris wie für Hermes oder Thoth - nicht bloß durchzogen von einem Wissen, das in Weisheit 10 beschlossen war, sondern von einem Gefühl, das im tiefsten Sinne ein moralisches war, das ein in tiefste Verehrung, Dankbarkeit gehülltes Gefühl war. Daher zeigen uns die alten Schilderungen, dass alles, was die Ägypter an Weisheit hatten, besonders in den alten Zeiten, später dann immer weniger und weniger, durchzogen war mit einem religiösen Charakter. Es war sogar alles menschliche Wissen mit einem heiligen Gefühl, alle Weisheit stets mit Frömmigkeit, alle Wissenschaft mit Religion verbunden im Sinne der alten Ägypter. Das alles zeigte sich in den späteren Zeiten mehr oder weniger nicht mehr in seiner reinen Gestalt. Denn so wahr es ist, dass die einzelnen Völker in den aufeinanderfolgenden Epochen die Mission haben, das allgemeine Geistige in speziellen Gestalten zur Ausgestaltung zu bringen, so wahr ist es, dass die einzelnen Kulturen, wenn sie ihre Höhe erreicht haben, einer Dekadenz entgegengehen. Und das meiste sogar, was aus der altägyptischen Kultur erhalten ist, stammt schon aus der Verfallszeit, und es kann nur geahnt werden, was dahintersteckt: was uns zum Beispiel an den Pyramiden merkwürdig anmutet, oder was mit dem grotesk erscheinenden Tierdienst gemeint ist. Denn da sagten sich die Ägypter: Der Zeit, in welcher die Weisheit gewirkt hat - nicht in der Zeit, in welcher sie dieselbe überkommen hatten - geht eine andere voran, wo alle Wesen, nicht nur der Mensch, aus göttlich-geistigen Höhen heruntergestiegen sind. Wenn wir des Menschen Innerstes kennenlernen wollen, dürfen wir nicht auf seine äußere Gestalt sehen, sondern da müssen wir hineindringen in das Innere. Was uns außen entgegentritt, sind wie stehengebliebene Stufen der Uroffenbarung. Das zeigt sich wie verdichtet in mächtigen Bildern alter Gesetzmäßigkeit in den drei Reichen der Natur; zunächst in der Welt der Ge-steine. Was sich uns da zeigt, sind Gestaltverhältnisse, die wir wieder zum Ausdruck bringen in der Pyramide. Was wir sehen in den Pflanzen an inneren Kräften, das ist etwas, was wir wieder ausgedrückt sehen in der Lotusblume. Und endlich auf dem Wege zum Menschen sehen wir, wie kristallisiert, wie nicht bis zum Menschen heraufgelangt göttliche Kräfte in äußere Formen gegossen, herumgestreut in den einzelnen Tiergestalten.
So ungefähr können wir uns die Empfindungen des alten Ägypters denken, wenn er in den Tieren auf die stehengebliebenen Formen uralter Götterkräfte hinsah. Denn der alte Ägypter sah auf uralte Zeiten zurück, wo aus göttlichübersinnlichen Kräften alles hervorsprosste, und er vermutete, dass in den Wesen der drei Reiche der Natur göttliche Kräfte stehengeblieben sind, die dann in ihm selbst zur Menschlichkeit sich heraufgestaltet haben. Immer zu dem Gefühl, zu der Empfindung und zu jener Notwendigkeit müssen wir blicken, die uns zeigt, dass solche Weisheit, wie sie bei den alten Ägyptern vorhanden war, durchaus eine Weisheit war, welche die Seelen moralisch ergriff, sie gar nicht ohne Moral lassen konnte. Und durch die Art, wie die gesamte Welt zusammengebracht wurde mit übersinn-lichen Kräften, musste ein moralisches Verhältnis zur Tierwelt entstehen, das sich nur in der ägyptischen Verfallszeit grotesk und sonderbar zum Ausdruck gebracht hat. Denn wenn man auf die spätere ägyptische Kultur sieht, so zeigt sich gerade, dass das Unvollkommene nicht am Ausgangspunkte steht, sondern dass am Ausgangspunkte der ägyptischen Kultur geistige Offenbarungen, Höhen der Kultur stehen. Wir dürfen- was man heute so gern zum Ausgangspunkt der Kulturen nimmt - die primitiven einfachen Zustände nicht den Urzuständen zuschreiben, sondern im Gegenteil den Verfallszeiten, in welchen das große geistige Gut bereits hinuntergesunken, verfallen war. Wenn wir irgendwo Kulturen der Barbarei finden, so sind dies nicht Urkulturen, sondern Verfallskulturen, die von der geistigen Höhe heruntergestiegen sind.
Das ist allerdings wieder etwas, was zum Ärgernis jener Wissenschaft dienen kann, die alle Kulturen so beschreiben möchte, als wenn sie von den urprimitivsten Zuständen ausgegangen wären, von solchen primitivsten Zuständen, wie man sie heute noch bei den Wilden sieht. Aber in den heutigen primitivsten Kulturen hat man Verfallskulturen, und am Beginne der Menschheit stehend hat man Urkulturen, welche unmittelbar aus der geistigen Welt heraus von den führenden geistigen Wesenheiten inspiriert sind, die hinter der äußeren Geschichte stehen. Das sagt die Geisteswissenschaft aus dem, was sie wissen kann. Wiederum können wir fragen: Kommt mit der Wissenschaft von heute, die auf der Höhe der Zeit steht, die Geisteswissenschaft dabei in Kollision, wenn sie behauptet, dass wir, indem wir in der Zeit zurückgehen, nicht zu Verfallskulturen, sondern zu hohen Kulturen kommen, die dann heruntergefallen sind? Wir haben bei dem Vortrag «Was hat die Geologie über Weltentstehung zu sagen?» gezeigt, dass dies in bezug auf die Geologie nicht der Fall ist. Für das, was heute gesagt worden ist, kann ein gleiches behauptet werden. Sie hat lange gedauert, die Zeit, in der man glaubte, dass man von unserer Zeit zu kindlichen, primitiven Zuständen zurückzusehen hat, wie sie heute noch bei den Wilden vorhanden sind, und nicht zu erhabenen Theorien. Wenn wir aber auf die äußeren Forschungen sehen, die klar und ohne Vorurteil den Tatsachen zuleibe gehen, was finden wir da? Ich möchte Ihnen einiges wörtlich mitteilen aus einem neueren Werke «Der Einfluss Babyloniens auf das Verständnis des Alten Testamentes» von 11 Alfred Jeremias, was uns zeigen wird, wie allmählich auch die äußere Forschung zurückgelangt zu einer geistig hochstehenden und von weitsichtigen Theorien durchzogenen Urkultur, und wie man das, was man barbarische Kulturen nennt, als Verfallskulturen ansehen muss. Das sei hier bei diesem neueren Werke besonders hervorgehoben. «Die ältesten Urkunden sowie das gesamte euphratensische Kulturleben setzen eine wissenschaftliche und zugleich religiöse Theorie voraus, die nicht etwa nur in den Geheimlehren der Tempel ihr Dasein fristet, sondern nach der die staatlichen Organisationen geregelt sind, nach der Recht gesprochen, das Eigentum verwaltet und geschützt wird. Je höher das Altertum ist, in das wir blicken können, um so ausschließlicher herrscht die Theorie; erst mit dem Verfall der alten euphratensischen Kultur kommen andere Mächte zur Geltung.»
Das ist der erste Anfang der äußeren Wissenschaft, die auch hier - wie wir es das letzte Mal für die Geologie zeigen konnten - Wege einschlägt, die mit dem zusammenführen können, was die Geisteswissenschaft in die gegenwärtige Kultur hineinzuführen hat. Wird man auf diesen Wegen weiter fortschreiten, dann wird man immer mehr und mehr von jenem toten Gebilde abkommen, das man an den Ausgangspunkt der menschlichen Kulturen hinstellen möchte als ein primitives, kindliches, und wird zu den großen Individualitäten kommen, die uns um so überragender erscheinen, weil sie einer noch hellseherischen Kultur aus ihren Inspirationen dasjenige zu überliefern hatten, was wir in aller Kulturbetätigung drinnen haben als die größten Wohltaten, deren wir teilhaftig sind. So blicken wir gerade zu denjenigen Geistern der Menschheit hin, die uns - wie Zarathustra, so auch Hermes - deshalb so groß erscheinen, weil sie zuerst die größten Impulse der Menschheit in jener altersgrauen Zeit gegeben haben, von welcher der Weise zu Solon sprach. Wir schauen hinauf zu Hermes oder Thoth und sagen uns: Wie Zarathustra, so steht auch Hermes da als eine derjenigen führenden Individualitäten der Menschheit, gegenüber denen wir, sie anblickend, in uns selber eine Steigerung unserer Kräfte fühlen, wissend, dass der Geist nicht nur in der Welt ist, sondern immerzu hereinströmt in Weltentaten, in Menschheitsentwickelung! Wir fühlen uns so recht in unserem Dasein bekräftigt, in unserem Wirken beglaubigt, in unserer Hoffnung versichert, in unserer Bestimmung als Menschen verstärkt durch den Zusammenhang mit solchen Geistern, von denen wir immer sagen werden: Zu ihnen blicken Nachgeborene und suchen ihr eigenes Dasein in den Gaben ihrer Seelenkräfte und erkennen das eigene Wirken in den ewigen Geisteswerken der durch die Menschheit hin mit mächtigem Impuls wirkenden Geistesführer!
aus: Rudolf Steiner HERMES Berlin, 16. Februar 1911 «Die Drei» 1925/26, 5. Jahrg., Heft 11
in diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass Isis mit Lilith identisch ist! Hierzu ist in diesem Forum einiges unter Lilith zu finden.