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Dieses Thema hat 2 Antworten
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 Texte und Gedichte
Linoma Offline




Beiträge: 1.500

01.04.2010 10:55
RE: Schöpfungsroman Antworten

Die Vertreibung aus der Hölle

© Tolya Glaukos


Nachdem Gott die letzten Kunstfehler des Kosmos behoben hatte, nahm er auf seinem Diwan Platz und verfolgte die Sterne auf ihren Bahnen durch den Äther. Aber schon bald begann er sich zu langweilen. Er wurde wortkarg und melancholisch, selbst das Sternenballett und die Engelschöre bewirkten keine Gemütsaufhellung. Sein Lieblingsengel Luzifer empfahl ihm einen Besuch in den irdischen Gärten. Gott beherzigte den Rat. Lange lief er durch den Park, aber es wollte sich kein poetisches Gefühl in ihm einstellen. Sein Gang blieb abrupt und unstet, als suchte er etwas. Als er das Oval in der Mitte des Parks erreichte, wusste er, was ihn gelockt hatte: Die Bäume. Luzifer hatte ihn überredet, zwei Fruchtbäume in den Garten zu setzen. Als Augenweiden, als jahreszeitliche Spieluhren. Gott hatte seinem talentierten Assistenten freie Hand gelassen - jetzt aber spürte er die Qual der Verführung im eigenen Herzkasten. Warum hatte er verfügt, dass niemand von den Früchten kosten durfte?
Die Rauschwirkung war verheerend. Gott verlor die Balance und fand sie nicht wieder. Fortan war es ihm unmöglich, von den Früchten zu lassen. All seine Pläne von universeller Ordnung und Harmonie waren zerschlagen. Im Jähzorn des Selbsthasses verfluchte er Luzifer und verwandelte den Erzengel in eine Schlange. Zur eigenen Rehabilitation aber genügte dies nicht. Die Lüste untergruben seine Autorität: Der Herrscher über die Welt war der eigenen Begierde erlegen. Um diese Scharte auszuwetzen, beschloss er, seine Schöpfung mit einer neuen Spezies gegen die Macht der Bäume zu verteidigen: Er nahm einen Klumpen Ton und modellierte eine Figur.
-Möge er verwirklichen, was mir versagt geblieben ist.
Der Körper räkelte sich, erhob sich aus den schwarzen Schollen und blickte zur Sonne hinauf, ins grelle Licht. Er spürte den Puls in seinen Adern und Schläfen, und durch sein Gehirn strömte das geschmeidige Fluidum des Denkens.
Gott gab dem ersten Menschen den Namen Me-Ish. Me-Ish trat in den Garten, in dessen Hainen ihm die Früchte in den Mund wuchsen. Dort lebte er lange im Kreis der Tiere und rief sie bei den Namen, die er für sie ausgewählt hatte. Nicht selten kam Gott herab und lustwandelte mit ihm im Park. Sie plauderten über das Licht und die Wahrheit, über die Ästhetik und die Formen der Natur, über die Fragen der Anatomie und der Botanik, über den Glauben und die Reinheit des Herzens.
Eines Tages führte Gott seinen Schützling in die Lichtung in der Mitte des Gartens. Im linken Teil des Ovals stand der Baum des Geistes, dessen ausladende Zweige von kürbisgroßen Pampelmusen herabgezogen wurden. Im rechten Teil hingegen wuchs der Baum des Herzens, an dem üppige Trauben von Aprikosen hingen. Gott betrachtete die süßen Früchte mit Skepsis, die Pampelmusen dagegen lockten ihn. Er riss eine reife Frucht vom Ast und wiegte sie liebevoll in seinen Händen. Dabei blickte er Me-Ish konspirativ ins Gesicht. Dann zerschlitzte er mit seinem linken Eckzahn die knotige Schale und träufelte sich die Fruchtsäure in den Mund. Me-Ish sah dem verzückten Gotte zu. Er verfolgte den klebrigen Saft, der in dessen Bartfransen kleckerte, verfolgte die faltige Zunge, die gierig über die spröden Lippen fuhr. Gott schmatzte. Me-Ish ekelten die Essgeräusche und die sinnenfrohe Mimik, die das Gesicht seines Herren verzerrten. Er war fest entschlossen, niemals von diesen Früchten zu kosten. Das unappetitliche Bild, das Gott abgab, hätte zur Abschreckung vollauf genügt. Der Kreator jedoch meinte, seinen Schützling überdies mit Worten warnen zu müssen:
-Wenn du vom Baum des Herzens isst, wirst du dir wünschen, eine Frau zu besitzen, und mit dieser Frau wirst du die Wonnen der Lüste begehren, weich und saftig, und aus diesen Gelüsten werden dir Kinder geboren, die an deine Stelle treten, du wirst alt werden und sterben, wie die Löwen, die auf der Wiese kauern. Und wenn du vom Baum des Geistes isst, werden dich beständig die Fragen über den Sinn deines Lebens quälen, du wirst an allem zweifeln, wirst immerfort nach der einen Wahrheit suchen, ohne jemals an ein Ziel gelangen zu können. Aber wisse, Me-Ish: Am glücklichsten bist du, wenn du diese Bäume meidest. Höre auf mich, denn ich selbst habe den Fehler begangen und von den fatalen Früchten gekostet. Siehst du? Noch heute kann ich nicht von ihnen lassen. Ich bin sterblich geworden, Me-Ish, überall lauert mir die Verführung auf. Bleibe bei dem, was du bist, dann Ewigkeit wird auf deiner Schulter sitzen wie ein Tukan.

Die Zeit verging. Me-Ish sah sich umwoben von den Fragen, die von diesen Bäumen ausgingen, über deren Bedeutung er nur fantasieren konnte. Wie herausfordernd ihre Früchte herabbaumelten! Sie drehten sich im Paradieswind wie ein perpetuum mobile; schwerfällig und erotisch zugleich.
Me-Ish jedoch widerstand der Versuchung.
Eines Tages, als sie nebeneinander in der Wiese lagen und dem Treiben der Tiere zusahen, fragte Me-Ish seinen Schöpfer, warum jedes Tier ein Gegenstück habe, nur ihm bliebe eine Gefährtin vorenthalten. Gott verdrehte die Augen:
-Es muss in das Verhängnis führen, glaube mir! Dann werdet ihr gewiss vom Baum des Herzens essen und sterblich werden. Oder ihr werdet vom Baum des Geistes essen und euch selbst nicht mehr als die erkennen, die ihr seid. Ihr werdet beginnen, euch selbst zu lieben, anstelle mit offenem Blick durch eine Welt zu streifen, in der jeder Tag ein neues Wunder für euch bereithält. Glaube mir, ich selbst habe gesündigt. Die Liebe, die Lust und das Denken sind die drei schlimmsten Plagen: Sie führen direkt in die Versklavung.
Me-Ish nickte.
Aber schon am nächsten Tag durchkämmte er den Garten, ob nicht irgendwo doch eine Genossin zu finden sei. Ein jedes Tier hatte seine Gespielin, nur er war allein - wie war das zu verstehen? Da dröhnte eine Stimme durch das Blätterdach des Gartens:
-Me-Ish, was suchst du?
-Nichts, nichts, murmelte Me-Ish.
Aber das in seine Wangen einschießende Blut verriet ihn.
-Du suchst nach deiner Genossin, nicht wahr? Aber die wird dein Verhängnis sein, Me-Ish, und du das ihre. Willst du das?
Me-Ish verstand nicht. Und Gott, der nicht mit Blindheit geschlagen war, sah Me-Ishs Verzweiflung. Schweren Herzens ging er daran, eine Frau zu schaffen. Aus den Schlacken eines Sumpfes formte er die weibliche Gestalt, und während des Modellierens empfand er erneut die innerlichen Reizungen, die ihn dereinst animiert hatten, die Welt in die Welt zu setzen - nun fand im Menschen diese ewige, elende Geschichte ihre Wiederholung. Oder vielleicht doch nicht? Wenn der Mensch vernünftiger war als die Götter, war eine Erlösung denkbar ...


Als Me-Ish am nächsten Morgen erwachte, saß an seiner Seite eine dunkelhäutige Frau, und sie kraulte ihm den Nacken. Ihr Name war Lilith. Die beiden umarmten sich. Wie vertraut roch dieses Parfüm von Menschenfleisch! Haut und Haare, Lider und Lippen, es war eine Sensation für alle Sinne. Dennoch erschraken sie über die unsichtbare Wand zwischen ihren Körpern. Me-Ish überspielte seine Unsicherheit und führte Lilith durch den Park. Er zeigte ihr die Sonne und den Mond, die Löwen und die Nacktschnecken, die Bäche und die Sümpfe, und zuletzt führte er sie zu den Obstbäumen in der Mitte des Parks.
-Wir dürfen nicht davon essen, sonst werden wir wie Gott, erklärte Me-Ish seiner Gefährtin.
-Und warum sollen wir nicht werden wie er? fragte Lilith.
-Weil es eine Strafe ist, sagt Gott.
-So? fragte Lilith. Dann dürfen wir nicht davon essen. Aber sag mir, was das heißt: Leben!?
-Du siehst die Löwen? Sie fressen, sie wälzen ihre Körper übereinander, und nach einiger Zeit springen kleine Löwen aus ihren Bäuchen, die wachsen, groß werden, ihrerseits kleine Löwen hervorbringen. Aber eines Tages werden sie müde. Sie erlahmen, ihr Pelz wird grau, und zuletzt fallen sie in einen Schlaf, aus dem sie nicht mehr erwachen. Sie werden stinkend wie die Sümpfe, aus denen wir von Gottes Hand geformt wurden.
-Und das ist das Leben? fragte Lilith.
-Das ist das Leben. Wir aber werden für immer die sein, die wir sind - solange wir nicht von dem Baum essen.
Lilith nickte, und fragte nach dem Baum des Geistes.
-Ich verstehe selbst nicht, was dieser Baum bedeutet. Gott sagt, man wird durch ihn zu einem persönlichen Wesen. Man beginnt, alles allein durch die Augen zu sehen, nicht durch das Erfassen der Welt mit allen Sinnen. Unser Bewusstsein wird hart sein wie Edelsteine. Wir werden zu Tag und Nacht werden, gespalten in die zwei Seiten, niemals mehr ganz wie jetzt.
-Wir wären dumm, wenn wir dies aufgäben, rief Lilith.
Und als es Nacht wurde, schmiegte sie sich an Me-Ish, und in ihrer engen Umarmung schliefen sie ein. Dennoch kribbelte zwischen ihren Hautfalten eine Vibration, etwas, das sich erheben wollte, um den Knoten zu zerschlagen.


So lebten sie lange Seite an Seite, und sie waren glücklich, in die Augen des Anderen zu blicken, und es waren ihre eigenen Augen. Sie liebten es, nebeneinander zu sitzen, ein jeder bei sich und ein jeder inmitten des anderen. Dennoch klirrte die Spannung zwischen ihnen, immer und überall.
Eines Abends strich der Mond den Garten mit Silberlicht aus. Lilith fand nicht in den Schlaf. Lange streunte sie durch die ausladenden Anlagen. Weil Gott den Park nach einem symmetrischen Muster angeordnet hatte, musste jeder Spaziergänger nach einiger Zeit unwillkürlich in die Lichtung in der Mitte gelangen. Dort hörte sie aus einem der Bäume eine Stimme. Sie fuhr herum. Eine weiße Schlange hing aus dem Baum des Herzens herab und umschmeichelte die samtigen Früchte.
-Höre mich an, Lilith, säuselte die Schlange. Gott hat gesagt, ihr sollt nicht von diesen Bäumen essen. Aber in Wahrheit ist der Baum des Herzens allein für euch bestimmt. Er kann eure Verspannungen lösen. Ihr werdet ineinander aufgehen. Wie Wasser werdet ihr euch vermischen ... Allerdings hat eine solche Einheit auch ihren Preis: Anschließend werdet ihr euch wie Fremde in die Augen blicken. Zeit wird vergehen, bis in euch erneut der Wunsch nach Vereinigung wächst, und wieder und wieder werdet ihr es tun, aber immer werdet ihr euch danach fremd sein. Es ist ein Tausch, Lilith, du wirst dich nähern dürfen, um wieder fern zu sein. Ein Pulsieren, wie Sonne und Mond sich die Hand geben. Und dann, Lilith, wirst du Kinder gebären. Diese Kinder werden sich auf dir nähren, werden dich im Laufe der Jahre bis auf den letzten Tropfen austrinken, und du wirst an deinem jüngsten Tag heimkehren in den Großen Schoß. Du gibst die Ewigkeit auf, aber du zerstreust auch diese entsetzliche Spannung, die in dir lebt, wuchert und zerrt. Diese Spannung wird sonst niemals weichen, hörst du? Niemals! Deshalb überlege es dir gut. Du hast Zeit genug, hi, hi ...



Die Schlange verschwand im Blätterwerk, aber ihr ironisches Kichern blieb an Liliths Schläfen haften. Und löste sich nicht. Ihre Hände schubberten an den Wangen entlang, bis sich rote Spuren abzeichneten. Die Argumente keimten in den Zwiespalten, in die sie gefallen waren. Vergrübelt schlich sie zu ihrer Lichtung zurück. Me-Ish aber erzählte sie nichts, als sie sich an seine Seite legte und nach der Spannung tastete, die sich erneut zwischen ihnen aufbaute wie eine Mauer. Und doch liebte Lilith gerade diese Blockade - weil nicht sein durfte, was nicht sein durfte.
Einige Zeit später kam sie auf ihren Streifzügen durch den Garten wieder in die Nähe des Baum des Herzens. Erneut sprach die weiße Schlange zu ihr. Diesmal klang sie besorgt:
-Lilith, wo bist du gewesen? Hast du Angst bekommen? Ich will dich zu nichts drängen. Ich selbst habe von diesem Baum gegessen, wie alle Tiere im Paradies. Es ist eine zu köstliche Frucht, als dass Gott sie ausgerechnet dir vorenthalten dürfte. Warum stehen die Bäume in diesem Garten? Nur, um euch zu quälen? Das ist unmenschlich ... Dennoch will ich dir etwas Wichtiges nicht vorenthalten: Wenn du von diesem Baum ißt, wird dir eine Schachtel mit Feuerhölzern in dein Herz gegeben werden. Wenn der große Moment gekommen ist, wird sich dein Hölzchen entzünden, und es wird dich mit Leidenschaft wärmen, ganz und gar ausfüllen, durch die Himmel tragen, für eine Stunde des Vergessens. Dann aber, wenn die Wärme verflogen ist, wirst du erstmals spüren, dass die Welt um dich kalt ist. Du wirst gleich ein weiteres der Hölzer anzünden wollen - aber Lilith, vergiss nicht, du hast nur diese eine Schachtel mit Feuerhölzern! Du musst sie dir sorgsam einteilen! Und du musst aufpassen, dass du nicht versehentlich alle zugleich anzündest, oder du wirst wie eine Sternschnuppe verglühen. Ich warne dich, es ist gefährlich. Aber doch so lockend, nicht wahr?

Lilith hielt der Versuchung erneut stand, legte sich an die Seite von Me-Ish und ließ die Spannung durch ihren Körper vibrieren. Wieder erzählte sie ihm nichts von ihrer Begegnung mit der Schlange. Sie liebte es, ihn mit federnen Schritten durch den Garten laufen zu sehen. Sie liebte es, ihm zuzuhören, wenn er zu den Stimmen der Vögel seine eigene Melodien intonierte, aus der Mitte seiner Lungen. Sie liebte es, ihn mit dem Kopf voran unter die Wasserhaut schlüpfen zu sehen, und seine Silhouette schillerte silbern wie eine Wasserschlange. In Momenten wie diesen sprang sie zu ihm ins Wasser, wühlte mit ihren Fingern in seinem Haar. Küsste seine Lippen und presste ihre Brustspitzen gegen seine Brust - und er umfasste ihre Hüften. Alles griff ineinander, und doch war etwas Unsichtbares, Forderndes, und Lilith wusste, was es war. Die Bäume.
Eines Nachts ging sie zu dem Baum, in dem die Schlange saß. Als sie ihre Hand emporstreckte, spitzte das weißgeschuppte Tier aus dem Dickicht hervor und flötete:
-Lilith, wie ich sehe, bist du bereit, die Frucht zu essen. Es freut mich zu sehen, dass die Vernunft ein weiteres Mal über den blinden Gehorsam triumphiert. Dennoch solltest du deinen Entschluss ein letztes Mal hinterfragen. Ich möchte nicht, dass du eines Tages in Gottes Hetztiraden einstimmst. Ich kann nicht verhehlen, wie sehr mir seine üble Nachrede missfällt ... Und wenn du tatsächlich davon isst, dann vergiss nicht, dass auch dein Geliebter davon essen muss, um die Feuerhölzer zu erhalten, damit sich zwischen euch die Leidenschaft entzünden kann.
Lilith pflückte sich zwei Aprikosen und ging zurück zu der Stelle, an der Me-Ish lag und schlief. Unterwegs biss sie in ihre Frucht. Da bemerkte sie, dass zwischen ihren Beinen der Spalt zu jucken begann. Wundwasser trat aus, während in ihrem Kopf die Elektrizität Spiralen und Pirouetten drehte. Sie warf die zweite Aprikose beiseite, wälzte sich auf Me-Ish, küsste ihn über und über. Dieser wunderte sich über die Intensität der Gefühle, die gegen seinen Körper brandeten. Instinktiv stieß er sie weg. Angst war es, die mit Rattenzähnen an seinen Häuten nagte.
-Was ist, Me-Ish? Ich wollte nur ...
-Du hast doch nicht von dem Baum gegessen?
-Ja, das habe ich. Und du musst jetzt auch essen, und dann werden wir das Wunder erleben, einmal, zweimal, hundertmal. Wir werden die gewaltigen Momente spüren, wenn der Knoten sich löst. Wir werden über den Himmel treiben, wie Gott - und werden ausgespuckt werden, hinaus in die Kälte einer Nacht, die wir noch nicht kennen. Aber wir werden glücklich sein! Wir werden in unserem Schmerz bei uns sein, immer. Immer. Für immer ...
Sie weinte.
Aber Me-Ish war abgestoßen von der Spannung, die von Lilith ausging, ihn angriff, schüttelte, aufrüttelte.
-Ich will nicht. Das gefällt mir nicht. Nein, wir dürfen nicht. Wir müssen dagegen ankämpfen. Du musst dagegen ankämpfen.
Lilith wollte ihren Kopf an seine Brust legen und in die alte Vertrautheit zurückfinden, aber zu heiß schwärte die Wunde in ihrem Schoß. Me-Ish schickte sie fort.

[ Editiert von Administrator Linoma am 01.04.10 11:00 ]

Die Wahrheit wiegt meistens schwer.

Linoma Offline




Beiträge: 1.500

01.04.2010 10:56
#2 RE: Schöpfungsroman Antworten

Wie von Sinnen lief sie durch den Park, steckte sich die Finger in die Furche, kratzte und schabte mit den Fingernägeln im juckenden Spalt, die Ränder der Schamlippen entlang. Ihr Geschlecht brannte wie ein Vulkan. Sie wälzte sich über den Boden und rieb ihre Furche in den kühlen Sand. Sie begann, ihre überhastete Tat zu beklagen, waidwunde Worte wiederholend. Ihr Lamento schaukelte sich auf und wurde zuletzt Hysterie. Da fuhr die Schlange aus dem Unterholz und fauchte sie an:
-Mädchen, du dummes Mädchen!? Habe ich dir nicht gesagt, dass ihr beide zugleich von der Frucht kosten müsst? Du bist verloren, Lilith. Jetzt musst du allein in die Hölle deines Schmerzes wandern!
Lilith blieb stumm, hielt Kopf und Schultern reumütig gesenkt, als drohten ihr Schläge.
-Trotz alledem, Lilith, kann ich dir zumindest bescheidenen Trost spenden. Wenn du willst, werde ich dein erstes Feuerholz entzünden. Nimm mich in dich auf, und du wirst leuchten.
Lilith ließ es geschehen.
Und reiste, für Sekunden und doch für Zeitlosigkeiten, an den Ort, wo man das Andere schaut, bevor man zurückgeworfen wird in die Welt des Frostes.
Am nächsten Morgen traf Me-Ish seine unglückliche Gefährtin am See. Die Kälte, die von ihrer Haut ausging, schnitt ihm Löcher unter die Achseln. Aber er überwand seine Skrupel:
-Wir werden es gemeinsam bewältigen. Ich werde deinen Stachel schlucken und in mir zur Ruhe betten.
Und nach einigen Tagen war die Kälte tatsächlich gewichen. Wie zuvor ging Lilith an seiner Seite durch den Garten. Die Wogen hatten sich geglättet, alles wirkte friedlich wie ehedem. Me-Ish meinte bereits, den Schlangenfluch bezwungen zu haben. Als er in einem Quell badete, kam Gott hinzu und sprang zu seinem Schützling ins kalte Nass.
-Ich habe alles gesehen, Me-Ish. So hat es kommen müssen.
Me-Ish wollte davon nichts wissen.
-Wir werden dagegen ankämpfen. Und wir werden siegen.
-Das werdet ihr nicht. Glaube mir, dir bleibt nur eine Wahl: Entweder verstößt du Lilith, oder du isst selbst von der Frucht. Du musst dich entscheiden. Willst du erleben, wie Lilith vor deinen Augen in der qualvollen Hitze einer Lust verzehrt wird, die du nicht stillen kannst? Willst du zusehen, wie sie altert, während du auf Ewigkeit jung bleibst? Du musst dich entscheiden, Me-Ish.
Me-Ish wollte es nicht wahrhaben. Doch schon begann Lilith erneut die Hitze zu verspüren und bedrängte ihn. Er musste sie ein weiteres Mal abweisen. Die gedemütigte Lilith lief erneut zum Baum des Herzens und rief die Schlange. Und ging auf die Reise in die andere Welt, grell wie die Sonne, sengend und segnend.



Immer wieder wollte sie Me-Ish von diesen außergewöhnlichen Gefühlen erzählen. Er aber wehrte ab:
-Man darf einem geringen Moment nicht solch große Bedeutung beimessen.
-Du verstehst mich nicht, sagte Lilith und weinte. Es hat keinen Sinn mehr, ich foltere dich nur. Wenn du die Frucht isst, wirst du mir Vorwürfe machen, dass ich dich verführt habe, und wenn du sie nicht isst, werde ich an deiner Seite alt werden und sterben, während du jung bleibst. Es ist besser, wenn sich hier unsere Wege scheiden.
Sie erwartete nicht, dass er sie zurückhielt. Es war besser zu gehen, hinaus aus dem Garten und hinein in die nackte, wüste Welt, die sich vor ihr erstreckte mit Dornen, die ihre Haut zerfetzten. Sie liebte diesen Schmerz, der ihr rote Striemen in die Haut riss. Und sie liebte es, die harte, trockene Erde in ihren Mund zu stopfen, sich an bitteren Schollen, sauren Beeren und knöchrigen Wurzeln zu nähren, die in der Wildnis wuchsen. Sie lief und lief, obwohl sie wusste, dass es für sie nirgendwo einen Ort gab, der sie erwählt hatte.
Indessen wanderte Gott mit Me-Ish durch den Park. Der Alte war nicht wenig stolz auf seinen Schützling:
-Exzellent, Me-Ish, auf beeindruckende Weise hast du der Versuchung widerstanden. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dies mein altes Herz erwärmt.
Me-Ish nickte. Glücklich war er dennoch nicht. Wieder war er allein. Und eines Nachts, als er zu dem Baum des Herzens ging und die Schlange zu ihm sprach, war er verführt, ebenfalls von der Frucht zu essen und Lilith nachzulaufen. Ohne sie waren seine Tage eintönig geworden, und Schuldgefühle marterten sein Gewissen. Nur weil er unachtsam gewesen war, irrte die Unglückliche jetzt durch die Wildnis, litt Hunger und würde eines Tages in bitterem Wahnsinn sterben.
Gott sah, welche Selbstvorwürfe Me-Ish folterten. Obwohl ihn Liliths Ungehorsam in seiner Skepsis bestätigt hatte, konnte er nicht leugnen, dass Me-Ish ihm treu und standhaft geblieben war. Um dessen düstere Gedanken zu zerstreuen, belohnte er ihn mit einer neuen Gefährtin: Als Me-Ish schlief, zerschlitzte er ihm mit seinem Eckzahn die Bauchdecke, brach ihm eine Rippe aus dem Brustkorb und schnitzte daraus Ish-Sha, eine weißhäutige Frau mit hellen Haaren, damit Me-Ish in ihr nicht die Wiedergängerin der schwarzen Lilith sehen konnte.
Als Me-Ish erwachte, war seine Freude groß. Er schloss die neue Gefährtin in seine Arme. Stolz führte er sie durch die ausladenden Gärten und pries diese in solchen Elogen, dass Ish-Sha glauben musste, er selbst habe diese angelegt. Auf ihrem Spaziergang gelangten sie schließlich auch in die Mitte des Parks. Von der Mittagssonne bestrahlt, glänzte das Blattwerk der Bäume wie von Klarlack überzogen. In dem Gezweig hockten hunderte bunte Vögel und hackten mit ihren Schnäbeln auf die überreifen Früchte ein. Ein Zwitschern, ein Hämmern, ein Schmatzen, dass Ish-Sha ihre Augen schloss und nur noch Ohr war für diese fantastische Klangkulisse. Ein Geräusch aber hob sich deutlich von allen anderen ab. Immer dann, wenn sich eine Frucht vom Stängel löste und durch das Geäst krachte, die raumgreifenden Äste durchbeugte und wieder emporschnellen ließ, um schließlich mit einem saftigen Schmatzen auf den Boden zu treffen, immer dann lief ein wohliger Schauer über Ish-Shas Rücken, unvergleichlich in seiner Intensität und in seiner Direktheit.
Was die Vögel verschmähten, vertilgten die Insekten und Würmer. Fliegen schwirrten, Maden wimmelten. Es roch nach süßer Fäulnis, es roch nach Glück. Me-Ish beschwor sie unter den breiten Kronen, niemals von diesen Früchten zu essen. Sonst drohe ihr Liliths Schicksal, welche irgendwo draußen in den Erdfurchen des Wahnsinns vegetierte - falls sie nicht schon längst von den wilden Tieren zerrissen worden war. Ish-Sha nickte.


Und Gott war glücklich, dies Paar Jahr und Tag durch den Garten streifen zu sehen, Hand in Hand, und manchmal auch Lippe auf Lippe, aber es waren Küsse der Seele und nicht des Herzens, das tief im Bauchbrunnen pocht und brodelt.
Die Ewigkeit wäre keine Ewigkeit, würde sich in ihr nicht zwangsläufig das Unvermeidliche zutragen. Ish-Sha kam an den heiligen Bäumen vorbei. Die Schlange nutzte die Gelegenheit und machte Liliths Nachfolgerin ihre Aufwartung:
-Endlich kommst du einmal vorbei, kleine Prinzessin mit dem Blondhaar. Ich habe schon lange auf dich gewartet.
-Wer bist du? fragte Ish-Sha.
-Ich bin die Urschlange. Gott hat mich verflucht, weil ich ihm vor langer Zeit die Tore zur Erkenntnis geöffnet habe. Auch er war schwach geworden und hat gesündigt, und diesen Lapsus hat er mir nie verziehen. Ish-Sha, euer Gott hat durch meine Worte von diesen Bäumen gegessen. Aber hätte er es nicht getan, wärt ihr niemals in diesen Garten gesetzt worden. Gott hätte auf Ewigkeit dort oben in seinem Palast gewohnt, ohne mit einer Wimper zu zucken. Jetzt ergötzt er sich an eurer Unschuld - eine, die er selbst nicht mehr haben kann.
-Me-Ish hat gesagt, wir müssen wahnsinnig werden wie Lilith, wenn wir von diesen Bäumen essen - aber auch Gott isst von dem Baum, und ist Gott wahnsinnig? fragte Ish-Sha.
-Nein, gewiss nicht. Ihr werdet, wenn ihr von dem Baum des Geistes esst, wie Gott werden, sterblich und unrein.
-Ich glaube, du lügst.
-Nein, ich lüge nicht. Niemand zwingt dich, von diesen Bäumen zu essen. Du kannst für immer neben deinem Gefährten in Eintracht leben. Aber eines Tages, wenn sogar Gott gestorben sein wird - und das wird er - werdet ihr gewiss fürchten, vor Langeweile sterben zu müssen. Spätestens dann werdet ihr von diesen Bäumen essen. Weil diese Bäume eure Gedanken besetzt halten, bis ihr, vom Verlangen stranguliert, diese gierig verschlingt.
Ish-Sha rannte zu Me-Ish und erzählte von ihrer Begegnung mit der Schlange. Dieser hielt es für ratsam, sich mit Gott darüber zu beraten. Gott zeigte sich ungewohnt kämpferisch:
-Diese bösartige Kreatur! Ich muss sie endlich aus der Welt schaffen. Wie einfach wäre das Leben ohne sie!
-Hast du sie nicht selbst geschaffen? fragte Me-Ish, der sich an die Worte Gottes über die Schöpfung der Welt erinnerte.
Gott aber errötete und wich aus.
-Es hat mit dem Baum des Geistes zu tun - aber es ist nicht gut für euch, mehr darüber zu wissen. Vertraut mir!
Gott verabschiedete sich hastig. Einmal mehr bereitete ihm die Schlange Kopfzerbrechen. Er grübelte darüber nach, wie er ihr ein für allemal den Garaus machen konnte.
Ish-Sha und Me-Ish blieben alleine zurück, und der Zweifel trat neben sie. Begleitete sie, wohin sie auch gingen. Der Baum lockte. Sie konnten sich nicht länger wehren, und da liefen sie zu ihm. In dem Baum des Geistes saß die Schlange und säuselte:
-Überlegt gut, was ihr tut. Euch werden die Augen geöffnet, und ihr werdet alles sehen, wie es wirklich ist, nicht wie es scheint. Es wird nicht nur ein Anblick der Freude sein, aber ihr werdet die Wahrheit wissen. Denn Gott verschweigt euch etwas.
Sie sahen sich an, und die Hilflosigkeit ließ ihre Hände emporschnellen, rasch und gleichförmig, als hätte ein Marionettenspieler an den Fäden gezogen. Ein jeder pflückte sich eine Pampelmuse, riss sie entzwei und presste den sauren Saft über den weit geöffneten Mund. Der Fruchtsaft stürzte in ihre Kehlen, flammte die Speiseröhre hinab, brannte im Magen wie Schnaps. In ihre Augen schoss Wasser, und als sie die Tränen fortwischten, sahen sie, dass der Park verschwunden war. Sie standen in einer eintönigen Steppe, neben einem toten Baum, an dem sich die Schlange herabringelte. Am Fuß angelangt, presste sie ihren Bauch auf die Erde und kroch savannenwärts davon.

Me-Ish und Ish-Sha sahen sich verblüfft an, denn sie erkannten, wie die Welt tatsächlich aussah: Herb, karstig und kalt. Sie blickten hinüber zur anderen Seite, wo der Baum des Herzens stand. Gab es wenigstens bei ihm Hoffnung? Aber auch er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Zum Totenpfahl verdorrt, bewohnten ihn nunmehr Ameisen, Holzkäfer und Termiten. In dem abgestorbenen Geäst hockte ein steinalter Mann mit zerzaustem Haarschopf und eingefallenen Wangen.
Das war Gott. Und Gott blickte sie mit stumpfer Miene an.
-Was ist mit dir, Gott? Wo sind wir hier?
-Es tut mir leid, sagte Gott. Es tut mir so leid. Ich wollte, ihr hättet in Ewigkeit leben können in dieser Welt, die nur für die reinen Seelen erlebbar ist. Dafür muss man aber die Fragen, die im Kopf brennen, mit dem Glück aus der eigenen Brust stillen. Und das ist noch niemand gelungen.
-Was sollen wir jetzt tun? fragte Ish-sha.
-Ihr werdet euch Felle nähen, eine Hütte bauen, das Feld bestellen, ihr werdet Kinder zeugen und alt werden - wie es das Gesetz vorsieht, gegen das ich mich auflehnen wollte. Ich habe an die Poesie der Ewigkeit geglaubt, aber ich habe mich geirrt, ein allerletztes Mal. Jetzt bin ich alt geworden. Ich werde bald sterben.
Gott hangelte sich mühevoll an der Borke herab.
-Bleib bei uns. Wir werden für dich sorgen, denn du hast uns geschaffen, sagte Ish-sha.
Sie trat auf ihn zu und streichelte seine Hand.
-Lasst mich. Ich muss fort. Ich muss noch einen letzten Zauber wirken. Die Schlange soll ihre gerechte Strafe erhalten, sonst nimmt diese entsetzliche Geschichte nie ein vernünftiges Ende.
Gott wankte in die Savanne hinaus und folgte den Spuren der Schlange. Und sie sahen ihn niemals wieder.
Me-Ish und Ish-Sha nahmen Steinkeile und töteten Schafe und Ziegen. Sie brieten die Kadaver über dem Lagerfeuer und nähten sich aus deren Fell Kleider. Sie lasen Beeren von den Sträuchern, die Körner des Feldes dagegen warfen sie in die Furchen der Äcker. Sie trugen Steine zusammen und hoben in einer Geländesenke ein Wohnloch aus; das Dach fertigten sie aus Ästen und getrocknetem Laub. Sie entzündeten ein Feuer, dessen Glut sie hüteten und als häuslichen Herd verehrten. Und jeden Abend, wenn sie ihr Tagwerk vollbracht hatten, setzten sie sich unter die toten Bäume. In dem Schmerz des großen Verlustes wuchs doch die Freude, sich endlich geschenkt zu sein, und nicht nur die Zungen berührten sich jetzt im Kuss.
Und als Ish-Sha schwanger war, hielten sie ihre Zeit im paradiesischen Garten längst für einen fernen Traum.

Gott war der Spur der Schlange über den halben Erdball gefolgt. Sie hatte sich zum Schlaf in eine Erdsenke gekauert. Als er die Weißgeschuppte erblickte, trat er mit seinem linken Fuß auf ihr Ende. Die Schlange fuhr auf und peitschte nach links und nach rechts. Sie zischte wie ein Geysir, doch Gott trat daraufhin noch fester zu. Sie biss ihm in die maroden Fesseln, aber Gott ignorierte es. Selbst als ihr Giftzahn in den Hautlappen seiner Füße steckenblieb, fletschte er sein kaputtes Gebiss zu einem lakonischen Grinsen:
-Endlich habe ich dich gefunden.
-Willst du dich nun an mir rächen? fragte die Schlange. Ich habe nichts Böses getan. Ich habe stets die Wahrheit gesagt. Du warst der Lügner, du hast dich immer selbst betrügen wollen. Und nun wirst du sterben, schon bald.
-Ja, ich werde sterben, aber davor musst du deine gerechte Strafe erhalten!
-Ich trage sie schon, siehst du das nicht?
-Du bist was du bist: Eine doppelzüngige Schlange. Du hast alles Schöne und Reine zerstört mit deiner Wahrheit. Ich will nicht bezweifeln, dass diese Wahrheit wahr ist, aber auch die Seele ist wahr - du jedoch hast die Seele immer nur in den Dreck ziehen wollen. Hah, die Wahrheit! Was für ein eitles Steckenpferd, auf dem du herumreitest! Nur weil du ihr selbst zum Opfer gefallen bist ... Das muss ein Ende haben.
Und Gott sammelte seine Kräfte für einen letzten Zauber. Wolken zogen auf, und ein Gewitter grollte, als er seine Formel sprach - Du bist Luzifer und wirst bis an das Ende deiner Tage in der Kälte der Hölle leben -, um dann, mit verklingender Stimme, seinerseits am Boden zu Staub zu zerschellen.



[ Editiert von Administrator Linoma am 01.04.10 11:09 ]

Die Wahrheit wiegt meistens schwer.

Linoma Offline




Beiträge: 1.500

01.04.2010 10:57
#3 RE: Schöpfungsroman Antworten

Luzifer fand sich in einer Grotte wieder. Wäre es heller gewesen, hätte er sehen können, dass Gott ihn in einen schwarzen Menschen verwandelt hatte. Luzifer erhob sich. Er taumelte dem Licht entgegen, das am anderen Ende ins Höhlendunkel hineinstrahlte. Aber kaum war er im Freien angelangt, begann seine Netzhaut zu brennen, und seine Haut juckte nesselfiebrig. Da half alles Augenreiben und Hautkratzen nicht weiter, er musste in die unwirtliche Höhle zurückkehren. Fortan kauerte er in der Kälte und begann, Steine zu essen.
Jahre vergingen. Luzifer gewöhnte sich an das Dunkel, und allmählich verinnerlichte er das Temperament der Steine. Er wurde gelassen wie ein Mönch. Moos überwuchs seine Haut. Um sich die Zeit zu vertreiben, meditierte er über den Stationen seines Lebens, und er wurde nicht müde, wieder und wieder den störrischen Patriarchen zu verfluchen, der sich lieber selbst verleugnet hatte, als der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen.


In den bittersten Momenten entzündete er eines seiner Feuerhölzer. Warmes Licht erstrahlte, Verzückung flutete durch seine steinernen Glieder. Aus seinen Nasenflügeln stieg Rauch, aus seinen Hoden tropfte Harz. Dies waren die seltenen Sekunden des Glücks. Immer wieder musste er sich gegen die Versuchung zur Wehr setzen, alle Hölzer auf einmal anzuzünden.
Jahr um Jahr war Lilith durch die Welt gelaufen. Sie war dem Lauf der Sonne gefolgt, hatte auf blanken Fußsohlen den halben Globus umrundet und war in Einbäumen über Meere gereist. Eisbären jagten sie, die Zugvögel zeigten ihr den Weg. Wenn des Abends ein blutiger Mond über den Horizont stieg, streckte Lilith ihre Arme in die Luft, damit sich ein Feuerholz an der Reibefläche ihres Sonnengeflechts entzündete. Da war sie glücklich, in der Savanne, und zu ihren Füßen kauerte der zahme Wolf.
Lilith wusste, dass sie durch ein Niemandsland zog, nirgendwo würde je ein Mensch auf sie warten. Zu Me-Ish ins Paradies wollte sie nicht mehr zurückkehren, bereits die Erinnerung verursachte Verwerfungen in ihrem Gemüt. Sie verbannte ihn in ihre Träume und wanderte weiter. Die Welt war groß, jeder neue Tag führte sie an einen neuen Ort. Sie sah die Wüsten und die Schwemmländer, die Gebirgszüge und die Regenwälder, die Morastfelder und die Schotterpisten, die Spiegelseen und die Meere. Nirgendwo rastete sie, ganz gleich, wie spektakulär die Szenerien sein mochten.


Eines Tages erreichte sie eine Höhle, aus der Schnarchgeräusche hervordrangen. Schlief dort ein Drache? Ihre Neugierde trieb sie in den dunklen Schacht. Auf halbem Weg hallte ihr eine Stimme entgegen:
-Wer ist da?
Angst sträubte Liliths Nackenhaare, packte sie an den Handgelenken und rüttelte sie. Doch unerklärlich war der Hoffnungsstrahl, der eine verwaiste Kammer im Inneren aufhellte. Hier sprach jemand ihre Sprache - oder halluzinierte sie?
-Mein Name ist Lilith. Wo bist du? Und wer bist du? rief sie, sich weiter an der Grottenwand vorwärtstastend.
-Lilith? Die Lilith, die im Garten von der Frucht kostete?
-Du weißt davon? Wer bist du? Ich sehe dich nicht.
-Deine Augen müssen sich erst an das Dunkel gewöhnen. Ich bin Luzifer, die Schlange. Gott hat mich verdammt, in dieser Finsternis zu hausen. Das Sonnenlicht ist mein Feind, nur bei Nacht kann ich die Höhle verlassen, und schon die flüchtigsten Mondstrahlen fügen mir heftige Schmerzen zu.
Lilith stieg weiter hinab, bis sie einen kalten Hauch spürte: Luzifer stand fast vor ihr. Plötzlich löste sich in ihm eines der Feuerhölzer, wurde Licht, er strahlte voll Wärme, und aus seinem Mund floss das Glück wie ein goldener Bach. Und auch Lilith hatte auf ihrer langen Sehnsuche endlich ein Ziel gefunden und zündete ein Feuerholz an. Für wenige Momente wurde die Höhle hell und warm, und die beiden schwarzen Menschen sahen sich an. Lachten. Und waren bis in die letzte Fiber ihres Seins durchdrungen von Hoffnung.
Aber schon kühlten ihre Herzen wieder aus, und Lilith saß neben dem kalten Mann, auf dessen Haut Moos wuchs. Sie unterhielten sich. Die Weltenwanderin erzählte von ihren abenteuerlichen Reisen, Luzifer jedoch fiel das Zuhören schwer. Bereits die Worte Sonne und Licht bereiteten ihm Qualen, wie das Streulicht, das beim Sonnenuntergang in den Vorhof der Grotte hineinstrahlte.
Nachts schlief Lilith an Luzifers Seite. Sie wickelte sich in mehrere Felle, doch nicht einmal das half gegen seine schneidende Kälte. Dennoch blieb sie bei dem, der zu ihr sprechen konnte - und zur anderen Seite lag der Wolf und wärmte ihr den Rücken. Tagsüber verließ Lilith die Höhle und bestellte ein Feld, zähmte Hühner und Ziegen. Mit den Eiern, den Früchten und der Milch trug sie jene Nuancen von Licht in die Höhle, die Luzifer vertragen konnte. Aber es schmerzte ihn weiterhin, wenn Lilith, die Sonne noch im Haar tragend, zu ihm trat und ihn berührte - während Liliths Hand an seiner Haut festfror.
Sie blieben sich fern. Nur wenn die Zeit gekommen war, entzündeten sie eines ihrer Feuerhölzer. Dann strahlten sie beide, dann konnten sich ihre Körper aufeinanderpressen, dann schloss sich durch Luzifers heißen Leib, der in sie und durch sie hindurch wanderte, die Wunde zwischen ihren Beinen. Dann wuchsen ihnen die Flügel für andere Sphären, dann war die Höhlendecke ein offener Himmel, dann zogen sie Hand in Hand durch die Sternenzeit, und sie tanzten und sprangen um das Lebensfeuer, das aus ihnen in sie hineinströmte.



Eines Tages war Lilith schwanger. Eine neue Hoffnung öffnete ihren Horizont - denn in Liliths Haar wuchsen silberne Strähnen, und in Luzifers steinernes Gesicht gruben sich immer tiefere Furchungen. Neun Monate später krochen Zwillinge aus Liliths Uterus. Zwar waren sie schwarz wie ihre Eltern, aber ihre Körper waren nicht kalt wie Metall, auch fürchteten sie nicht die Sonne. Ihre Körper wuchsen und gediehen wie Bambus. Sie errichteten in den Bäumen aufwendige Wohnbauten, legten Vorratslager an und sogar eine Heiligenstätte. Sie jagten die Tiere des Waldes, banden die Schafe, Schweine und Hühner an Pflöcke und zähmten sie. Den Zwillingen folgten fünf weitere Geschwister, bevor das Alter Liliths Lenden verschloss.
Lilith verließ ihre Hütte. Die Siedlung rings um die Mammutbäume hatte eine stattliche Ausdehnung erreicht. Am Dorfbrunnen warfen die Enkelkinder ihre Bälle beiseite und tanzten Ringelreihen um die alterskrumme Großmutter. Eine Weile folgte ihr die kreischende Kinderschar. Sie stützten Lilith, als diese am Rand der Ackerfurchen entlangbalancierte und trotz ihres Gehstocks immer wieder ins Straucheln geriet. Sie passierten die Schweinekober und die Weiden der Schafe. Nur die letzten hundert Meter bis zum Höhleneingang waren ungestaltet belassen worden; mit dieser Geste zollten die Nachkommen dem Stammvater ihren Tribut. An dieser Wegmarke verabschiedeten sich die Enkelkinder und liefen ins Dorf zurück. Wie ihre Eltern fürchteten sie den alten Mann aus der Unterwelt. Einzig Lilith wagte sich in seine Höhle. Sie tastete sich an der Schnur entlang, tauchte mit jedem Schritt tiefer ins schwarze Nichts. Als ihr Stock schließlich gegen den Fuß des Steinquaders klackte, raffte sie ihre Röcke hoch und nahm neben Luzifer Platz. Wortlos blieben die beiden nebeneinander sitzen. Lilith war vom langen Weg erschöpft. Jeder ihrer Atemzüge klang wie ein Trupp Kettensklaven, die schlecht geölte Loren durch Bergwerkschächte schieben. Auch ihr Kopf wurde bleischwer und sank auf Luzifers Schulter hinab. So saßen sie lange und sprachen nicht. Ein jeder hatte nur noch ein Feuerholz: Das große, rote Schwefelholz, das den Tod versüßt.
Die Nachkommen hörten das Gedröhn einer Explosion. Sie liefen zur Höhle und sahen Dampf daraus hervorquellen. Als die Detonation verhallte, folgte dem Rauch fette Magma, die die hölzernen Bauten am Höhleneingang wegsprengte und sich in wulstigen Teppichen über Wälder und Wiesen wälzte. Wie eine stehende Welle näherte sich die Lava der Siedlung, versetzte die Schafe und Schweine in Panik. Und auch die sieben Kinder packten ihre sieben Sachen und flohen in die sieben Winde. Ihre Nachkommen verteilten sich über den Erdkreis und begründeten Afrika, Asien und Australien.
Am anderen Ende der Welt saßen Me-Ish und Ish-Sha vor ihrer Hütte und umarmten sich ein letztes Mal, bevor auch sie, in Eintracht aneinandergelehnt, ihre letzte Reise antraten. Deren sieben Kinder hatten erstmals den Tod leibhaftig vor sich. Sie begruben ihre Eltern in einer Felsspalte und suchten ihrerseits das Heil in der Fremde. Sie begründeten Europa, Südamerika und Vorderasien.
Nicht mehr fern war die Zeit, in der die schwarzen Volksstämme auf die weißen Volksstämme trafen. Es würde Kriege geben, immer wieder Kriege, bis der große Krieg anbrach, der Krieg zwischen Schwarz und Weiß, Hölle und Himmel, Geist und Herz, und es würde Blut fließen, eine katastrophale Flut würde den Planeten überschwemmen, aber danach würden die Völker sich vermischen, und in jeder neugeborenen Brust würden zwei Bäume wachsen, der Baum mit den Aprikosen und der Baum mit den Pampelmusen, und der Krieg zwischen Schwarz und Weiß, Himmel und Hölle, Geist und Herz würde inmitten ihrer selbst stattfinden -
wie Gott, bevor er starb.


aus: http://online-roman.de/afrika/afrika-137.html

[ Editiert von Administrator Linoma am 01.04.10 11:12 ]

Die Wahrheit wiegt meistens schwer.

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