Die Unsterblichkeit der Seele
Eine Beweisführung in Platons Phaidon
Als Rahmenhandlung für seinen Beweis der Unterblichkeit der Seele dient Platon ein Gespräch zwischen Echekrates und Phaidon. Echekrates war erst nach der Hinrichtung des Sokrates nach Athen gekommen und so berichtet Phaidon ihm von diesem Tag. Sokrates wurde zum Tode verurteilt, weil er angeblich einen verderblichen Einfluss auf die Jugend hatte und die Griechischen Götter missachtet haben soll. Die Hinrichtung wurde aber zunächst aufgeschoben, weil am Tag von Sokrates Verurteilung das Schiff geweiht wurde, das jedes Jahr als Gedenkprozession zum Heiligtum des Apollon nach Delos geschickt wurde. Während dieser Zeit durfte niemand getötet werden. So konnten die Schüler des Sokrates bis zur Rückkehr des Schiffes jeden Tag mit Sokrates im Gefängnis verbringen. Nun jedoch war der Tag der Hinrichtung gekommen. Doch auch seine letzten Stunden sollen dem philosophischen Dialog gewidmet sein.
Beweise für die Unsterblichkeit der Seele
Nachdem Sokrates ein paar Bemerkungen über das Leben als Vorbereitung auf den Tod und der Philosophie als Reinigung der Seele gemacht hat, widmet er sich anschließend ausführlich der Beweisführung für die Unsterblichkeit der Seele. Nicht erwähnt werden in diesem Artikel die Einwände Simmias und Kebes zwischen dem dritten und vierten Beweis. Genauso werden die Beweise in diesem Artikel nicht kritisch hinterfragt, sondern nur wiedergegeben.
Erster Beweis: Der Kreislauf des Lebens
In diesem Argument wird angenommen, dass alles aus etwas Gegensätzlichem entsteht, also dass in allen Fällen von Gegensätzen, wie groß und klein, warm und kalt, eine Veränderung von einem Zustand in einen Entgegengesetzten stattfinden muss. Dieses Prinzip gilt für alles, was wird. Hinzukommt die Notwendigkeit einer zyklischen Regeneration: Wenn irgendwo ein Hase stirbt, wird anderswo ein neuer geboren. Also entsteht Lebendiges aus Totem und umgekehrt. Werden und Vergehen müssen einen Kreislauf bilden, sonst käme alles zum Stillstand.
Zweiter Beweis: Wiedererinnerung
Den Anstoß für diesen Beweis liefert Kebes. Er ruft die Lehre der Wiedererinnerung ins Gedächtnis: Das Lernen ist Wiedererinnerung an etwas, was zu einer früheren Zeit gelernt worden ist. Das bedeutet, dass die Seele schon vorher, unabhängig vom Körper existiert haben muss. Sokrates erläutert dies am Beispiel des „Gleichgroßen": Zwei Steine erscheinen uns gleichgroß. Doch auch sehen wir, dass sie nicht vollkommen gleichgroß sind. Das ist nur deshalb möglich, weil wir den Standard des Gleichgroßen selbst kennen und so die Unvollkommenheit des Gleichgroßen der Steine erfassen. Das setzt aber voraus, dass wir schon vor unserer Geburt das Wissen des Gleichgroßen gehabt haben müssen. Daraus folgt für Sokrates, dass die Seelen schon ohne den Körper existierten. Dieser Beweis sagt aber nichts über eine Postexistenz der Seele.
Dritter Beweis: Die Neigung der Seele zum Ewigen
Zerstörbarkeit beruht laut Sokrates auf Zusammengesetztem, da alles Zusammengesetzte sich wieder in seine Bestandteile zerlegen lasse. Veränderlichkeit ist ein Zeichen für Zusammengesetztheit, Unveränderlichkeit für Unzusammengesetzes. Veränderungen werden durch Wahrnehmungen erfasst, das Unveränderliche nicht. Letzteres wird daher als unsichtbar klassifiziert. Das Unsichtbare bleibt also immer gleich, während das Sichtbare Veränderungen unterliegt. Die Seele ist unsichtbar, also nicht veränderlich. Dennoch gebraucht sie die Sinne, wenn sie sich mit der Welt beschäftigt, was Sokrates als einen Abstieg der Seele charakterisiert. Denn dadurch ist sie an veränderliche Objekte gekettet. Deshalb ist die Seele nur verwandt mit dem Ewigen und ist ihr nicht gleich. Zusätzlich soll die Seele die Herrschaft über den Körper haben. In dieser Funktion ist sie also mit dem Göttlichen vergleichbar, das über das Sterbliche herrscht. Somit ist die Seele dem Unveränderlichen, Göttlichen, Unsterblichen ähnlich, im Gegensatz zum Körper, der dem Veränderlichen und Sterblichen ähnlich bleibt.
Der letzte Beweis
Zunächst zeigt Sokrates, dass es Eigenschaften gibt, die zu einem Träger dazugehören, ohne jedoch mit ihm identisch zu sein. Zum Beispiel ist Feuer nicht identisch mit Hitze. Doch das Feuer könnte niemals Kälte annehmen und Feuer bleiben. Die Seele bringt als notwendige Eigenschaft das Leben mit sich. Durch ihre Anwesenheit wird der Körper belebt. Da der Tod dem Leben entgegengesetzt ist, kann die Seele diesen niemals annehmen, ohne das zu bleiben, was sie ist. Man kann sie daher als „un-tot" bezeichnen. Das Un-tote ist gleichzeitig unzerstörbar und somit ist es unmöglich, dass die Seele durch den Tod vernichtet wird. Es kann keine tote Seele geben, da sie den Tod nicht annehmen kann.
Der Tod des Sokrates
Nach Abschluss der Beweisführung sind seine Zuhörer einverstanden und haben keine Einwände. Es folgen Reaktionen der Gesprächspartner und eine Vision Sokrates vom Leben nach dem Tod. Die Schilderung von Sokrates Tod ist knapp: seine gelassene Haltung, das Trinken des Giftbechers, die ersten Symptome bis zum Eintritt des Todes. Phaidon schließt seinen Bericht mit den Worten:
„Das, Echekrates, war das Ende unseres Freundes, eines Menschen, der, wie wir sagen möchten, von den damaligen, die wir gekannt haben, der beste und überhaupt der vernünftigste und gerechteste war."
(Platon, Phaidon, übersetzt und herausgegeben von Barbara Zahnpfennig, Hamburg, 1991)
Die Wahrheit wiegt meistens schwer.