Es war einmal junger Bursche namens Timaron, der hatte eine lockere Faust, ein ebenso lockeres Mundwerk und führte stets das letzte Wort. Doch nicht genug damit: Timaron war auch ein Lügner und Dieb.
Timaron lebte allein in einem alten Haus am Rande der Stadt. Hatte er jemandem, der zu nahe an ihm vorbeigegangen war, die Börse aus dem Gewand gezogen, so versteckte er das ergaunerte Geld in einem großen Tonkrug in der Speisekammer. Timaron war ein hübscher schlaksiger, hochgewachsener Bursche mit einem blassen Gesicht und großen dunklen Augen und die jungen Damen wären ihm wohl in Scharen nachgelaufen, hätte Timaron nur ein wenig Interesse für sie gezeigt. Doch Timaron interessierte sich nur für Geld. Warum soll ich von früh bis spät dafür buckeln, wo ich es umsonst haben kann, dachte Timaron. Schau die armen Schlucker in der Stadt an. Sie schuften für die Reichen und haben dennoch kaum mehr als einen Bissen Brot auf dem Tisch. Warum sollte ich es ihnen gleichtun?
Geriet Timaron mit jemand in Streit, und dies geschah fast täglich, so dachte er stets: warte nur ab, eines Tages werde ich reich sein und dann wirst du nach meiner Pfeife tanzen. Niemanden wunderte es, dass Timaron keine Freunde hatte.
Als der Tonkrug in der Speisekammer voll war, sagte sich Timaron, es ist wohl besser, wenn ich mich aus dem Staube mache, bevor man mir auf die Schliche kommt und mich in den Kerker wirft. Also packte er sein Bündel, stopfte sich die Taschen voll mit dem ergaunerten Geld und machte sich auf den Weg in die nächste Stadt. Er suchte einen Schneider auf und befahl: Mach mir Gewänder, die eines Edelmannes würdig sind, Alter, aber lass es nicht zu lange dauern, sonst setzt es was. Der Schneider tat wie ihm aufgetragen wurde und schneiderte für Timaron Kleider aus edlem Tuch. Ich sehe wirklich wie ein Edelmann aus, dachte Timaron, als er sich nach der Anprobe im Spiegel betrachtete. Ich könnte mich für eines Königs Sohn ausgeben. Dieser Gedanke ließ Timaron nicht mehr los. Timaron malte sich aus, wie es wäre, König zu sein, in einem prächtigen Palast zu wohnen, die schönsten Kleider zu tragen und einen breitkrempigen Hut mit Pfauenfedern. In seiner Fantasie sah Timaron Truhen, gefüllt mit Gold und Geschmeide, die sein eigen waren. Wahrhaftig: wann immer es gerade nichts zu stehlen und nichts wichtigeres zu denken gab, malte sich Timaron das Bild vom Königsein fortan in den buntesten Farben aus.
Bald wurde Timaron, der auch in der neuen Stadt seinem frevelhaften Handwerk nachging, das Pflaster zu heiß und so brach er auf und wanderte ziellos weiter. Ein Wald lag an seinem Wege und weil gerade der helle Vollmond schien, ging Timaron mitten hinein. Dieser Wald war dunkel und unheimlich und sehr still. Die Tannen standen so dicht, dass Timaron kaum etwas sehen konnte. Er begann sich zu fürchten. Wenn ich ein Lied singe und kräftig dazu marschiere, dann bin ich schneller wieder draußen, dachte er. Und er begann laut vor sich hin zu singen: Wenn ich ein König wäre, gäbe das Volk mir Ehre...
Immer dichter und schwärzer wurde der Wald und obwohl der volle Mond irgendwo über ihm am Himmel stand, konnte Timaron den Pfad nicht sehen und stolperte fluchend über einen großen Wurzelstock. Als er sich wieder aufrichtete, stand ein uraltes dürres Männlein vor ihm. Es trug ein sackleinenes Gewand, das mit einer dicken Hanfschnur um die Hüfte gehalten wurde und einen braunen Filzhut auf dem Kopf. In seiner rechten Hand hielt das Männchen einen knorrigen Fichtenast. Timaron blieb stehen.
Soso Timaron, krächzte das Männchen. König möchtest du sein. Hast du denn noch nicht genug Reichtümer ergaunert?
Sollte ich, antwortete Timaron schnippisch, wer bist du überhaupt, Alter. Fort mit dir, du stehst mir im Weg. Er fasste nach dem Arm des Männchens, um es beiseite zu stoßen.
Oh, sagte das Männlein, ich bin der, der dich zum König machen kann.
Zum König? Lächerlich. Timaron lachte schallend. Such das Weite Alter, bevor ich mich an dir vergreife. Und Timaron wollte ihm den Arm auf den Rücken drehen. Aber das Männchen machte eine flinke Bewegung und ehe Timaron sich versah, stand es ein paar Schritte entfernt.
Schau her, sagte das Männchen und schlug mit dem Fichtenast dreimal in die Luft. Ein Blitz zuckte und da stand Timaron in einem wunderbaren Gewand aus Silberfäden da und in Schuhen aus golddurchwirktem blauem Brokat gegen die das edle Tuch des Stadtschneiders geradezu billig wirkte.
Siehst du nun, dass ich die Macht habe, dich zum König zu machen, Timaron? sagte das Männchen
Muss wohl so sein, antwortete Timaron, bei dem was ich hier gerade sehe. Was willst du dafür? Du tust es doch sicher nicht umsonst?
Oh, die Gegenleistung ist gering, Timaron, sagte das Männchen und grinste. Du musst nur, nachdem du König geworden bist, jeden Abend vor dem Schlafengehen in den Spiegel schauen, den ich dir geben werde. Vergisst du es einmal, so wirst du am Morgen danach bettelarm und taubstumm erwachen, so dass du dir wünschst, niemals geboren worden zu sein.
Timaron überlegte einen Moment lang, ob er in den Handel einwilligen sollte, dann siegte seine Gier.
Nun denn, sagte Timaron, so sei es. Einmal am Tag ein Blick in den Spiegel kann nicht schaden. Mach mich zum König Alter, aber ein bisschen plötzlich, sonst setzt es was.
Gemach, gemach, antwortete das Männchen und zog einen goldenen Handspiegel aus seinem Gewand. Morgen Abend, wenn die Sonne untergeht, wirst du König sein, Timaron.
Er reichte Timaron den Spiegel, schlug einmal mit dem Fichtenast in die Luft, dass es nur so sauste, ein Blitz fuhr zwischen den Tannen herab und Timaron trug noch einen Hut mit einer kostbaren Pfauenfeder auf dem Kopf, der wunderbar zu dem neuen Gewand aus Silberfäden passte.
Der Handel gilt, sagte der Alte. Bevor Timaron noch etwas erwidern konnte, war das Männchen verschwunden. Nur sein Lachen hing wie ein Echo über dem Wald. Das ging ja ziemlich einfach, dachte Timaron und schob den goldenen Spiegel, ohne hineinzuschauen, in eine Tasche seines neuen Gewandes.
Der Wald schien kein Ende nehmen zu wollen und Timaron wanderte darin herum bis zum Morgengrauen. Erst als die Sonne aufging, wurden die Bäume lichter und schließlich stand er an einem Feldrand und hielt die Hand vor die Augen, um zu sehen, wo er war. Ein einzelner Reiter auf einem weißen Pferd kam direkt auf ihn zu.
Grüß euch, sagte der Reiter, der ein ebenso prächtiges Gewand trug wie Timaron. Ihr seid zu Fuß unterwegs in dieser Einöde? Wie kann das sein?
Mein Rappe ist mir durchgegangen wegen eines Wolfes, log Timaron, und nun muss ich wohl meinen Weg zu Fuß fortsetzen.
Da ihr ein Edelmann seid, dürft ihr zusammen mit mir des Weges reiten, so ist es kurzweiliger für mich, antwortete der Fremde. Ich liebe Gesellschaft. Sitzt auf.
Timaron tat wie ihm geheißen wurde. Es stellte sich heraus, dass der freundliche Reiter ein Königsohn war, unterwegs nach Hause, um die Thronfolge seines verstorbenen Vaters anzutreten. Timaron dachte an die Prophezeiung des Männchens. Er fragte den Prinzen nach den Gepflogenheiten bei Hofe und allem, was zu wissen ihm nützlich schien. Da der Prinz ein argloser junger Mann war, der Timaron nichts Böses zutraute, gab er bereitwillig Auskunft. So ritten sie zu zweit auf einem Pferd dem Palast entgegen.
Um die Mittagszeit kamen die beiden Reiter zu einem Gasthaus und machten Rast. Es wurde reichlich aufgetischt und getrunken. Weil sie zu Abend am Hofe sein wollten, ritten sie nach dem Mittagsmahl zügig weiter. Doch die zwei Krüge Rotwein stiegen ihnen zu Kopfe, so dass es Mühe machte, sich auf dem Pferd zu halten. Da banden sie den Schimmel an einen Strauch und streckten sich unweit daneben aus, um ihren Rausch auszuschlafen. Timaron aber hatte nur so getan als sei er betrunken. Kaum war der junge Prinz tief und fest eingeschlafen, da erhob sich Timaron und begann im Gewand des Prinzen nach dessen Börse zu suchen. Er steckte sie in sein eigenes Gewand, zog dem Prinzen, der sich unruhig hin und her wälzte, die Kleidung bis aufs Unterzeug aus und stahl ihm auch den königlichen Ring vom Finger. Die Kleidung des Prinzen verstaute er in den Satteltaschen, band den Schimmel los und machte sich in Windeseile davon.
Am späten Nachmittag kam Timaron im Palast an und wurde freundlich und zuvorkommend empfangen, hielt man ihn doch für den lange abwesenden und endlich heimgekehrten jungen Prinzen. Timaron nahm die königlichen Insignien in Empfang und als die Sonne unterging, hatte sich die Prophezeiung des Männchens erfüllt: Timaron war König.
So ein Tag wie heute gefällt mir, dachte Timaron als er endlich allein in seinem Schlafgemach ruhte. Es ist ziemlich gut für mich gelaufen. Meinen Untertanen habe ich auch gleich gezeigt, mit wem sie es in Zukunft zu tun haben. Man kann nicht genug Strenge zeigen. Fürwahr, Timaron hatte Strenge gezeigt. Ganz nebenbei hatte er während der Festlichkeiten, die ihm zu Ehren abgehalten worden waren, einen Jungen, der einen Laib Brot in seinem Wams verstecken wollte, in den Kerker werfen lassen. Ganz nebenbei, während er den tanzenden Hofdamen zusah, hatte er dem Hofmarschall die Anweisung gegeben, ab sofort die Abgaben der Bauern zu verdoppeln. Zwei der Höflinge, die ausgelassen grölten und soffen, hatte er zu seinen persönlichen Dienern bestimmt. Das waren Kerle nach seinem Geschmack. Jetzt kurz nach Mitternacht war Timaron müde. Er zog gerade das seidene Laken über sich, da fiel ihm die Anweisung des Alten ein, vor dem Schlafengehen in den Spiegel zu schauen. Rechte Lust dazu verspürte Timaron nicht. Doch womöglich würde er tatsächlich anderntags bettelarm und taubstumm aufwachen, wenn er den Blick in den Spiegel unterließ. Missmutig stieg er wieder aus dem Bett und zog den goldenen Handspiegel aus seinem Gewand. Er setzte sich auf die Bettkante, sah wie das Männlein ihm befohlen hatte, in den Spiegel hinein, wollte gerade die Zunge herausstrecken und schrie stattdessen schrill auf. Denn das Bild, unverkennbar Timarons Gesicht, das der Spiegel zeigte, sah entsetzlich aus: die linke Gesichtshälfte war eine einzige dickfleischige, unförmige, knochenlose Masse. Anstelle des Nasenflügels klaffte da ein längliches Loch. Über dem zugeschwollenen Auge war statt einer Augenbraue ein riesiger Höcker zu sehen mit einer weiß glänzenden Stelle in der Mitte, als ob sich ein Horn herausschieben wollte. Am schlimmsten anzusehen waren aber die dicken Pusteln inmitten dieser fleischigen Masse. Timaron stieß einen zweiten Schrei aus und ließ den Spiegel auf die Bettdecke fallen. Ich sehe aus wie eine Missgeburt, dachte er. Vor Schreck begann er mit beiden Händen seine Wangen zu betasten. Sie fühlten sich glatt und weich an wie immer. Er sah noch einmal in den Spiegel hinein: Die abscheuliche Fratze grinste ihm jetzt entgegen. Das ist Teufelswerk, dachte Timaron, ich werde nach dem Alten suchen lassen und ihn zur Rede stellen. Gleich morgen früh.
Nach dem Aufwachen, noch bevor die Dienerschaft erschien, sah Timaron erneut in den Spiegel und siehe da, das entstellte Gesicht war verschwunden. Der goldene Spiegel zeigte Timarons Gesicht, wie er es kannte: weiche Linien, blasse makellose Haut und dunkle Augen, in denen ein Feuer loderte. Ich habe gestern Abend wohl dem Wein zu sehr zugesprochen, dachte Timaron und bin einem Trugbild aufgesessen. Fürwahr, er war sehr erleichtert.
Doch die Erleichterung währte nur kurz. Als Timaron am nächsten Abend erneut in den Spiegel sah, zeigte ihm dieser erneut das entstellte Gesicht, schlimmer anzusehen als am Tage zuvor, denn nun waren die Pusteln aufgeplatzt und ein kleines schwarzes Horn hatte sich aus dem Stirnhöcker geschoben. Wieder schrie Timaron erschrocken auf und ließ den Spiegel fallen, wie am Abend zuvor. Und wieder betastete Timaron sein Gesicht und fühlte unter seinen Fingern nichts als glatte Haut.
So ging es viele Tage lang. Schaute Timaron morgens nach dem Aufwachen in den Spiegel, so sah er darin sein hübsches makelloses Jungmännergesicht mit einem leichten dunklen Flaum über der Oberlippe, schaute er vor dem Schlafengehen hinein, sah er, dass der Fleischberg, der seine linke Wange sein sollte, noch unförmiger und narbiger geworden war. Das Horn war gewachsen und begann sich rechts herum zu drehen. Neuerdings glaubte Timaron sogar Fäulnis zu riechen, die von dem zerstörten Teil des Gesichtes ausging.
Zwischen Morgen und Abend ging Timaron seinen Regierungsgeschäften nach. Das hieß, eigentlich tat er nichts wirklich Sinnvolles. Er saß auf seinem Thron, ließ Minister, Hofmarschall und Dienerschaft um sich herumspringen, gab Befehle, die alle auf sein eigenes Wohl abzielten, geriet in Wut, wenn es nicht schnell genug ging und bestrafte aufs Härteste jedes noch so kleine Vergehen. Niemand konnte ihm etwas recht machen. Auch der Hofschneider mit seinen Gesellen wuselte jeden Vormittag nervös um Timaron herum, denn der ließ sich ständig neue Kleider machen, weil er diejenigen, die er am Abend ablegte, niemals ein zweites Mal anziehen mochte. So musste immer edleres Tuch her, musste neu entworfen werden und der Schneider immer schneller schneidern um Timaron zufrieden zu stellen. Und auch sonst stand nichts mehr zum Besten im Königreich: Die Bauern stöhnten unter der Last der Abgaben, immer mehr Bettler zogen durch die Straßen, bis Timaron sie aus der Stadt vertreiben ließ. Die Truhen mit dem königlichen Golde und der königliche Weinkeller leerten sich. Die Kornspeicher wurden nicht mehr gefüllt, die Schweine und Ziegen mussten geschlachtet und bei Hofe abgeliefert werden. Armut schlich wie ein Gespenst durch Timarons Königreich. Timaron hatte kein Auge und kein Gespür für solch alltägliche Dinge und wiesen die Minister ihn erregt auf diese Zustände hin, so antwortete er nur: Papperlapapp ... ruft die Musikanten, lasst auftischen und langweilt mich nicht, husch... husch. Und er jagte sie mit einer knappen Geste fort. Was kümmert mich das dumme Volk, dachte Timaron, ich feiere lieber. Und dies tat Timaron ausgiebig mit denen, die sich auf seine Seite geschlagen hatten. Er kostete das Gefühl, Macht über andere zu haben, bis zur Neige aus. Wusste er doch: erschiene der echte Prinz eines Tages im Palast, womit immer zu rechnen war, so wäre es schnell aus mit dem Königsein und mit dem lockeren Leben. Bis dahin nehme ich was ich kriegen kann, dachte Timaron und trieb es Tag für Tag schlimmer.
Bislang hatte der Spiegel des alten Männleins frühmorgens immer Timarons glattes Jungmännergesicht gezeigt, ein Abbild, das ihn den abendlichen Schock auf die leichte Schulter nehmen ließ. Dann aber kam ein Morgen, da zeigte der Spiegel auf Timarons rechter Wange ein großes rotes Furunkel, das kurz vor dem Aufplatzen war und eine Verdickung der rechten Augenbraue und dieser Anblick warf Timaron schier um. Nicht auch das noch, stöhnte er und begann aufgeregt sein Gesicht zu befingern. Dieses Mal glaubte er, den unförmigen Fleischberg unter seinen tastenden Händen tatsächlich zu fühlen und als er mit der Hand über die linke Stirnhälfte strich, da meinte er doch, das Horn greifen zu können, das sich schon dreimal um seine eigene Achse gedreht hatte und pechschwarz geworden war. Timaron spürte auf einmal eine dumpfe Angst in seinen Eingeweiden. Am liebsten hätte er sich ins Bett verkrochen und wäre nie wieder aufgestanden, doch der Kammerdiener erschien pünktlich wie jeden Morgen und half ihm in die neuen Kleider. Timaron beobachtete ihn argwöhnisch. Was glotzt du so, fragte er ihn, hast du nichts besseres zu tun? Und der Kammerdiener verbeugte sich und verließ rückwärts gehend das Schlafgemach. Er sieht es, das Horn und das andere, dachte Timaron, wahrscheinlich sieht jedermann die abscheuliche Fratze, die auf meinem Halse sitzt und keiner sagt es mir. Wenn ich dieses verdammte Männchen in die Finger kriege, zerquetsche ich es wie eine Laus. Von diesem Tag an hatte Timaron keine rechte Freude mehr am Königsein und wurde noch anmaßender und zorniger als zuvor. Im gleichen Maße wie Timaron sich aufführte, veränderte sich auch das Gesicht im Spiegel, es war mittlerweile so unansehnlich geworden, dass Timaron jedes Mal Brechreiz aufsteigen fühlte, wenn er nur den goldenen Spiegel anfasste. Und schlimmer noch als dies, mittlerweile glaubte Timaron, dass er dieses Gesicht wirklich besaß, konnte er doch die Wucherungen, den Höcker und das Horn jeden Tag deutlicher unter den Fingern fühlen und den Gestank der Wunden riechen. Schau in mein Gesicht, befahl er dem Hofmarschall. Was siehst du?
Ich sehe einen gut aussehenden jungen Herrn, antwortete der und das ärgerte Timaron über die Maßen, ging er doch davon aus, dass jedermann ihm aus Furcht vor Strafe die Wahrheit verschwieg. Ich bin umgeben von einem Haufen unehrlicher Tagediebe, schrie er, man sollte euch alle über die Wehrmauer werfen.
In einem solchen Wutanfall schwang Timaron sich auf den Schimmel und ritt in Windeseile aus der Stadt hinaus. Es war Frühling, letzte Schneereste lagen auf den Feldern. Timaron trieb den Schimmel an als wäre der Teufel hinter ihm her. Er war schon weit vom Palast entfernt, da strauchelte der Schimmel in einem Erdloch, warf ihn ab und machte sich auf und davon. So musste Timaron den Rückweg zu Fuß antreten. Nach einer Weile merkte er, dass jemand neben ihm herging und wollte den ungebetenen Begleiter mit bösen Worten verjagen, da sagte dieser: Soso, König Timaron ist vom hohen Ross gefallen mitten in den Dreck, und Timaron erkannte den dürren Alten aus dem Walde. Gut, dass ich dich treffe, sagte Timaron, griff dem Alten blitzschnell an den Kragen und hob ihn hoch, so dass der mit den Beinen zappelte und sämtliche Zauberkunststücke vergaß. Schau mich an, schrie Timaron, schau in mein Gesicht! Was hast du mit mir gemacht? Was siehst du? Sprich!
Lass mich runter und ich sage es dir, antwortete das Männlein und Timaron stellte ihn zurück auf die Erde. Nun? Das Männchen rückte den braunen Filzhut gerade, zog sich das Wams zurecht, hob den Fichtenast auf, der zu Boden gefallen war und sagte mit seiner hohen Stimme: Ich sehe einen jungen Mann, einen Lügner und Dieb, der König sein wollte. Einen der immer das letzte Wort haben muss, der streitsüchtig ist und die Macht, die ich ihm gegeben habe, Tag für Tag missbraucht. Ich sehe jemanden vor mir, dem all seine Schlechtigkeit ins Gesicht geschrieben ist. Bist du zufrieden mit der Antwort? Timaron verschlug es die Sprache. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Schließlich keuchte er kleinlaut: Du hast mich betrogen. Hast mir den verhexten Spiegel gegeben und zwingst mich, jeden Abend hineinzuschauen.
Was ist verkehrt an diesem Spiegel, fragte das Männlein und grinste: Er ist aus Gold, Timaron. Gold liebst du doch über alles. Aber du hast recht, es ist ein Zauberspiegel. Er zeigt dir, wie du wirklich bist. Was hast du gesehen?
Als ob du nicht wüsstest, was ich jeden Abend und jeden Morgen sehe, schrie Timaron. Eine Ausgeburt der Hölle sehe ich, seit dem ich das erstemal hineingeschaut habe. Ich hasse dich. Mach dass du fortkommst Alter, sonst blase ich dir auf der Stelle das Lebenslicht aus. Und Timaron drehte sich um und wollte das Männlein erneut packen, griff aber ins Leere. Denn das stand auf einmal dreihundert Schritte von ihm entfernt auf einem Hügel und Blitz und Donner fuhren aus dem Fichtenast. Timaron unterdrückte einen Fluch und lief erbost vorwärts. Als er auf freiem Feld war, hörte er seinen Namen rufen: Er drehte sich um. Das Männlein stand neben einem blühenden Ginsterstrauch und rief: Ein bisschen Demut stünde dir gut zu Gesicht, Timaron. Und dann lachte es und Timaron hatte das Gefühl, dass dieses Lachen für einen Moment im ganzen Königreich zu hören war.
Die Sonne ging bereits unter, da begegnete Timaron einer alten Frau, die hatte Feuerholz im Wald gesammelt und trug es in einem großen Weidenkorb auf dem Rücken. Seid gegrüßt hoher Herr, sagte sie freundlich, warum seid ihr zu Fuß unterwegs? Wo ist euere Kutsche?
Timaron hatte keine Lust, sich auf ein Geplauder mit ihr einzulassen. Doch sie erinnerte ihn ein wenig an seine Großmutter und darum sagte er: Mein Schimmel hat mich abgeworfen, darum bin ich zu Fuß. Eine Weile gingen sie nebeneinander her. Timaron versuchte, die alte Frau nicht zu beachten, aber das war nicht einfach. Denn schritt er aus, so schritt auch sie kräftig aus, verlangsamte er seinen Schritt, so dass er fast stehen blieb, so tat sie es ihm nach und auf diese Weise blieben sie beieinander, so sehr Timaron auch danach trachtete ihr zu entkommen. Und dabei keuchte die Alte, dass Timaron glaubte, ihre letzte Stunde sei gekommen. Schließlich konnte er es nicht mehr hören und sagte: Steigt auf meinen Rücken, damit ich euch ein Stück Wegs trage, der Korb mit dem Holz ist sicher schwer. Und er ließ sie samt dem Korb auf seinen Rücken aufspringen und trug sie bis nahe ans Stadttor. Auf solche Weise den Gaul zu spielen war Timaron äußerst peinlich. Daher dachte er vor jeder Wegbiegung: hoffentlich begegnet uns niemand, ich gebe einen lächerlichen Anblick ab.
An diesem Abend war Timaron rechtschaffen müde. Er hatte keine Lust mehr zu feiern und die Dienstboten umherzujagen und suchte früher als gewöhnlich seine Gemächer auf. Als er den unvermeidlichen Blick in den goldenen Spiegel warf, fiel ihm sogleich eine winzige Veränderung auf. Das schwarze Horn auf der linken Stirn war geschrumpft, es zeigte statt drei nur noch zwei Drehungen und auf der rechten Wange erkannte Timaron ein kleines Stück glatter, weicher Haut, kaum größer als sein Daumennagel. Der Furunkel war fort. Die halbe Nacht grübelte er darüber nach, warum diese Verbesserung geschehen sein könnte, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. In dieser Nacht träumte er von dem Männlein. Im Traum stapfte Timaron als großes unförmiges Tier durch die Dunkelheit, er trug die Fratze des Spiegelbildes und das Männlein rief ihm wie ein Echo ständig den Satz zu, den er am Ginsterbusch gehört hatte: ein bisschen Demut stünde dir gut zu Gesicht ... zu Gesicht... zu Gesicht. Als Timaron erwachte, dachte er, ich habe gestern für die Alte den Esel gemacht, deshalb ist das Horn geschrumpft und der Furunkel verschwunden. Soll aber niemand glauben, dass ich jetzt Tag für Tag alte Weiber durch die Gegend schleppe. Doch die Sache hatte seine Neugier geweckt. Am Nachmittag brach er erneut zu einem Ritt auf, jagte den Schimmel fort und wartete auf die alte Holzsammlerin. Er hatte die Absicht, sie wieder ein Stück Wegs zu tragen, um seine Theorie bestätigt zu sehen, doch die Frau kam nicht. Timaron ging enttäuscht wieder heim. Als er am Stadttor ankam, warf er gedankenlos dem einzig noch verbliebenen Bettler eine Münze zu. Und siehe da: das Spiegelbild belohnte ihn dafür: das schwarze Horn war auf einmal nur noch daumengroß, die rechte Wange weicher und glatter als am Abend zuvor. Am dritten Tag aber kam Timarons alte Natur wieder zum Vorschein und er sagte sich: Ich bin einem Trugbild aufgesessen. Dieser Spiegel hält mich zum Narren. Er will mich zwingen, selbstlos zu sein. Das lasse ich mit mir nicht machen. Ich will selbst bestimmen können, wie ich mich benehme. Warum soll ich mir Vorschriften machen lassen?
Fortan beleidigte er jeden, der seinen Weg kreuzte, scheuchte das Gesinde hin und her, gab voll Ungeduld die widersprüchlichsten Befehle und fluchte, wenn sie nicht schnell genug ausgeführt wurden, er erhöhte erneut die Steuern für seine Untertanen, hielt jeden Vormittag auf dem Marktplatz höchstpersönlich Gericht und stellte die Leute für das kleinste Vergehen an den Pranger. An den Spätnachmittagen schickte er nach den Musikanten, ließ auftischen was Küche und Keller hergaben, wischte mit dem Ellbogen sämtliche Schüsseln vom Tisch, wenn ihm das Essen nicht schmeckte und betrank sich hernach bis zum Umfallen mit Wein. Kurzum: Timaron benahm sich so unerträglich wie eh und je. Vor dem Schlafengehen sah er stets in den Spiegel aus Angst, sich anderntags taub und stumm wiederzufinden, wie das Männchen ihm gedroht hatte, mochte das Bild, das ihm entgegenglotzte, auch von Tag zu Tag unerträglicher werden in seiner Scheußlichkeit. Der Furunkel auf der rechten Backe war längst aufgebrochen. Das linke Horn war wieder gewachsen und begann gerade seine vierte Drehung. Um das Maß voll zu machen schob sich aus einem Höcker über dem rechten Auge das zweite Horn. Was hat der Alte behauptet, lallte Timaron seinem Spiegelbild zu, meine Schlechtigkeit wäre mir ins Gesicht geschrieben? Dämlicher Zauberspiegel. Und am liebsten hätte er ihn in tausend Stücke geschlagen.
Die Zeit verging, in welcher der Zauberspiegel des Männleins die Regeln bestimmte: war Timaron grausam, unbarmherzig und egoistisch gewesen, so zeigte der Spiegel ihm sein Ich als widerliche Fratze, war Timaron freundlich und großzügig gewesen, belohnte ihn der Spiegel entsprechend. Timaron spielte dieses Wechselspiel mit großem Eifer.
Drei Jahre vergingen auf diese Weise. Dann dämmerte Timaron, dass er das Spiel niemals gewinnen würde. Längst war er den abendlichen Blick in den Zauberspiegel leid, mochte dieser auch noch so schön und golden in seiner Hand liegen. Außerdem war er davon überzeugt, dass jedermann am Hofe sein entstelltes Gesicht sehen konnte, senkten die Höflinge und das Gesinde doch stets den Blick, sobald sie seiner ansichtig wurden und huschten schnell an ihm vorbei.
Doch weil selbst im größten Gauner noch ein Rest des Guten zu finden ist, vor allem aber, weil er den Anblick seiner Fratze gründlich leid wurde und sich ein hübsches Spiegelbild wünschte, gelangte Timaron allmählich zur Einsicht, dass Bosheit und Lasterhaftigkeit nicht wirklich lohnenswert sind. Er tat mehr Gutes als Schlechtes und so wurde aus Timaron doch noch ein rechter König. Der Zauberspiegel zeigte ihm bald ein schönes ebenmäßiges blasses Gesicht mit großen dunklen Augen, sein eigenes Gesicht, ein wenig älter geworden, aber doch sein Gesicht. Nur ein einziger Schandfleck zierte noch die linke Wange: eine große schwarze Beule, aus der lange borstige Haare wuchsen und in der es pulsierte und waberte, als befände sich etwas Lebendiges darin. So sehr Timaron auch Gutes tat, diese Beule verschwand nicht.
Eines Sommertages ritt Timaron wieder einmal ohne Begleitung aus. Als er an eine Wegkreuzung kam, hielt er an um nachzudenken, welche Richtung er wählen sollte. Da stand auf einmal wie aus dem Nichts das kleine dürre Männlein in seinem sackleinenen Gewand vor ihm. Es nahm den braunen Filzhut vom Kopf und klopfte mit dem Fichtenast, den es in seiner rechten Hand hielt, dreimal auf die Erde. Blaue Funken sprühten. Timarons Schimmel bäumte sich vor Schreck auf und hätte seinen Reiter beinahe abgeworfen.
Wie ich sehe Timaron, hast du gelernt, sagte das Männlein mit seiner heiseren Stimme, es war ein langer Weg - doch er ist noch nicht zu Ende. Dabei zeigte es mit seinem langen knochigen Zeigefinger auf Timarons Wange, wo die Beule sofort schmerzhaft zu pochen begann.
Lass mich in Ruhe Alter, sagte Timaron verdrießlich. Habe ich noch nicht genug von meinen Reichtümern verschenkt? War ich nicht in vielerlei Hinsicht nachsichtig mit meinen Untertanen? Habe ich nicht die Bettler wieder in die Stadt gelassen und den Bauern die Last gesenkt? Habe ich nicht aufgehört zu saufen und das Gesinde zu verspotten? Was willst du noch von mir?
Sind es deine Reichtümer gewesen, die du verschenkt hast oder gehörten sie einem anderen, fragte das Männlein. Sollten die Bauern nicht einem anderen dienen? Denke nach, Timaron, denke nach. Du kannst nicht verschenken, was dir nicht gehört. Du bist noch immer ein Lügner und Dieb.
Während das Männlein diese Worte sprach, tat die schwarze Beule auf Timarons Wange so weh, dass es ihm fast den Kopf sprengte.
Befreie mich von diesem Ding, Alter, keuchte Timaron, aber schnell, sonst setzt es was, und er schnellte vor und wollte das Männlein packen. Aber das stand schon weit weg von Timaron auf einem Erdhügel.
Ich kann dich nicht davon befreien Timaron, schrie es ihm entgegen, das musst du schon selbst tun. Denke nach, dann wird dir wohl einfallen, wie du sie loswirst.
Und schon war es verschwunden.
Timaron brauchte über die Ursache der Beule gar nicht nachzudenken, war ihm doch der junge Prinz, den er so schändlich um sein Erbe und seinen Herrschaftsanspruch betrogen hatte, bisher nie wirklich aus dem Sinn gegangen. Die Furcht, der Prinz könne eines Tages heimkommen und ihn in den Kerker werfen lassen, war seit seiner Ankunft auf dem Schloss stets gegenwärtig gewesen.
Ich werde eine Reise durch meine Ländereien machen, sagte Timaron eines Tages zu den Ratsherren, es ist gut für das Volk, wenn der König hin und wieder persönlich nach dem Rechten sieht. In Wirklichkeit aber wollte Timaron nach dem jungen Prinzen suchen. So nahm er nur drei Soldaten zu seinem Schutze mit. Sobald sie in ein Dorf kamen, schickte Timaron seine Begleiter unter einem Vorwand fort und fragte die Leute aus, ob es einen jungen Mann unter ihnen gäbe, der aus der Fremde gekommen war und wirres Zeug erzählen mochte, doch niemand kannte einen solchen.
Eines Tages kamen Timaron und seine drei Soldaten zu jenem Gasthaus, in dem Timaron und der junge Prinz damals ausgiebig gegessen und gezecht hatten. Sie gingen hinein und bestellten Essen und da erkannte Timaron in dem jungen Schankburschen den Königssohn, den er so schändlich betrogen hatte. Dieser erkannte ihn jedoch nicht. Timaron befahl seinen Begleitern, auf das Schloss zurückzukehren. Ich will die Sache zwischen dem Prinzen und mir alleine klären, so oder so, dachte Timaron.
Timaron bestellte sich einen Humpen Rotwein und als der Schankbursche damit an seinen Tisch kam, so begann er ihn zu fragen, wie lange er schon als Schankbursche arbeite. Seit nahezu fünf Jahren, antwortete der junge Mann, und ich kann von Glück sagen, dass der Wirt mich aufgenommen hat. Wisst ihr, ich bin der Sohn eines Königs, auf dem Nachhauseweg aus der Fremde hat man mich überfallen und mir alle meine Kleidung und den königlichen Ring gestohlen. Wie hätte ich mich danach noch ausweisen können als der, der ich bin?
Wie hat dies geschehen können, fragte Timaron interessiert, obwohl niemand es besser wusste als er.
Nun, mein Vater, der König war gestorben und ich war auf dem Weg nach Hause, um mein väterliches Erbe anzutreten. Unterwegs traf ich einen jungen Edelmann, dem der Rappe durchgegangen war. Ich ließ ihn aufsitzen und wir ritten auf meinem Schimmel in Richtung des Schlosses. Als wir nur noch einen halben Tagesritt entfernt waren, kehrten wir hier in diesem Gasthaus ein. Wir haben wohl dem Wein zu sehr zugesprochen, denn beim Weiterreiten wurden wir müde und legten uns schlafen und da müssen wir überfallen worden sein. Jedenfalls wachte ich bei Sonnenuntergang wieder auf und der Edelmann war fort, ebenso mein Schimmel und alle meine Besitztümer. Nur das Unterzeug hatte man mir gelassen. So irrte ich eine Weile zu Fuß umher und machte mich sogar zum Dieb, indem ich in einem der Dörfer ein wollenes Wams und eine Hose von einer Wäscheleine stahl. Irgendwann kam ich wieder hierher in dieses Gasthaus, verdingte mich als Schankbursche und blieb bis heute.
Das ist ein traurige Geschichte, sagte Timaron teilnahmsvoll. Was habt ihr nun in Zukunft vor? Wollt Ihr ein Leben lang Schankbursche bleiben?
Das muss ich wohl, sagte der Prinz, denn ich kann mich nicht legitimieren und da ich lange Jahre in der Fremde studiert habe, so kennt mich im ganzen Reich niemand.
Soll er Schankbursche bleiben, dachte Timaron und ich König, wie es mir gebührt. Doch seine Zunge formte stattdessen die Worte:
Ich kenne euch. Ich kann euch legitimieren.
Wie das? fragte der Prinz und Timaron sagte, nun da die Dinge ihren Lauf zu nehmen schienen:
Schaut mich an. Erkennt ihr mich wieder. Ich bin der Edelmann, den ihr habt aufsitzen lassen, der mit dem ihr gezecht und euch unter einem Strauch zur Ruhe gelegt hattet. Und da Timaron ein Lügner und die Wahrheit für ihn gar nicht schmeichelhaft, ja wahrscheinlich sogar äußerst gefährlich war, so sagte er: Man hat uns tatsächlich während des Schlafes überfallen und uns bestohlen. Doch erwachte ich, als sich die Räuber lauthals um das Bargeld zankten. Ich verfolgte sie bis zum Abend und nahm ihnen einen großen Teil ihrer Beute, den Siegelring und den Schimmel wieder ab, als sie im Heu ihren Rausch ausschliefen. Danach machte ich mich auf den Weg ins Schloss, um euch euer Eigentum zu übergeben, falls ihr schon vor mir angekommen wäret. Doch bei meiner Ankunft übergab man mir sofort die Regierungsgeschäfte, hielt man mich doch für den jungen Prinzen und ich dachte, es wird nicht schaden, ein oder zwei Tage König zu spielen, bis ihr heimgefunden hättet. Aber ihr seid nicht heimgekommen und so habe ich euch überall gesucht. Während Timaron diese Worte sprach, tat die Beule auf seiner Backe so weh, dass ihm eine Träne aus dem Auge rann.
Ihr weint ja Herr, sagte der junge Prinz staunend, ihr habt einen wahrhaft edlen Charakter, und er wischte sich verlegen die rauen Hände an seiner Schürze ab. So kann ich also mein Bündel packen und zusammen mit euch auf mein Schloss gehen, wo ihr mich legitimieren werdet?
Aber ja, sagte Timaron und dachte dabei: Was bleibt mir anderes übrig, jetzt, wo die Dinge in diese Richtung laufen.
Vorausgesetzt, ihr lasst mich nicht in den Kerker werfen.
Warum sollte ich, antwortete der Prinz, ich muss euch dankbar sein, gebt ihr mir doch mein wahres Leben zurück. Wir werden sagen, dass wir Brüder sind und ihr würdet mir als Erstgeborenem fortan das Regieren überlassen. Auf diese Weise wird alles wieder in Ordnung gebracht. Ihr könnt so lange auf dem Schloss bleiben wie ihr wollt und sogar mein Erster Minister werden.
So soll es sein, sagte Timaron und sie besiegelten es mit einem Handschlag.
Der junge Prinz packte sein Bündel und sie ritten, zwei auf einem Pferd, gemeinsam dem Schloss entgegen. Timaron übergab dem Prinzen die königlichen Insignien und sie feierten seine Rückkehr bis weit in die Nacht hinein. Da bin ich noch einmal davongekommen, dachte Timaron. Ich habe wahrlich mehr Glück als Verstand.
Weit nach Mitternacht zog Timaron den goldenen Spiegel unter seinem Kopfkissen hervor und sah hinein. Die Beule auf seiner linken Wange war verschwunden. Das Spiegelbild zeigte ihm sein schönes glattes Jungmännergesicht. Einzig auf der rechten Wange leuchtete ein kleinfingernagelgroßes Furunkel und Timaron war seine Herkunft sofort klar. Ich habe den Prinzen belogen, dachte er, aber was hätte ich tun sollen. Warum sollte ich mich selbst belasten? Ich tauge nicht für den Kerker und es ist ja trotz der Lüge gut ausgegangen. Da wurde der Spiegel auf einmal blind. Ein grüner Nebel waberte daraus hervor und als Timaron wieder hinsah, sah er das alte dürre Männlein darin.
Nun Timaron, sagte es, den Furunkel wirst du wohl dein Leben lang mit dir herumtragen müssen. Aber ich sehe du hast deine Lektion endgültig gelernt. Was du in meinem Zauberspiegel gesehen hast, war das Gesicht deiner Seele. Das wird dir für den Rest deines Lebens hoffentlich zur Lehre dienen und dich anspornen, fortan ein guter Mensch zu sein.
Das wird es, sagte Timaron kleinlaut. Aber nun befreie mich endlich von diesem Fluch und lass mich mein Leben leben. Ich werde kein Dieb und Lügner mehr sein. Ich versprech's.
So sei es, sagte das alte Männchen im Spiegel. Es hatte auf einmal den Fichtenast in der Hand und schwang ihn dreimal hin und her und da zerbrach der Zauberspiegel in Timarons Hand. Seine Teile lösten sich auf und verschwanden im Nichts.
Leb wohl Timaron, hörte er die Stimme des Männleins, leb wohl.
Timaron löschte das Licht, kroch ins Bett, zog die Decke über sich und fiel in einen tiefen Schlaf.
Am folgenden Tag wurde er zum Ersten Minister ernannt und regierte zusammen mit dem Prinzen, der nun König war, das Reich noch lange gemeinsam und in Frieden.